Jean Benoît

Die Vollstreckung des Testaments von Marquis de Sade

Paris, bei Joyce Mansour, 2. Dezember 1959



I

ch habe einer Zeremonie beigewohnt, die aus Anlass des hundertfünfundvierzigsten Todestages von Sade in privatem Rahmen in der Pariser Wohnung der Dichterin Joyce Mansour stattfand. Dieser von ihrem Erfinder, dem jungen kanadischen Maler Jean Benoît, bis in die kleinsten Einzelheiten vorbereiteten Veranstaltung lässt sich in Gegenwart und Vergangenheit kaum etwas Vergleichbares an die Seite stellen. Wir waren ungefähr hundert Gäste. Als die Türen des großen, weißen Zimmers aufgingen, in dem die Zeremonie stattfinden sollte, hörten wir plötzlich einen großen Lärm, eine Art drohendes Geheul, das aus den Schlünden eines Vulkans hervorzudringen schien. Wir standen Schulter an Schulter und spähten auf die vor uns liegende geschlossene Flügeltür im leeren Teil des Zimmers.

Anwesend waren – außer zahlreichen anderen Malern, Dichtern und Kritikern – André Breton, André Pieyre de Mandiargues und seine Frau Bona, Julien Gracq, Victor Brauner, Octavio Paz, Edgar Morin, Matta, Robert Lebel. Man unterhielt sich kaum. Ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Neugierde und Unbehagen war von manchen Gesichtern abzulesen. Dann brach der ohrenbetäubende Lärm ab. Ein Lautsprecher verkündete das berühmte »Fünftens« des Testaments von Marquis de Sade, in dem dieser verlangt, man solle sein Grab unter einem »dichten Gestrüpp« ausheben und Eicheln »darauf streuen«, »damit«, wie er schreibt, »der Boden über besagtem Grab später wieder zuwachse und das Unterholz wieder so dicht werde wie zuvor, so dass die Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche verschwinden, wie ich mir schmeichele, dass die Erinnerung an mich aus dem Geist der Menschen ausgelöscht werden wird«. Die Stimme, die langsam und feierlich diesen Absatz aus dem Testament vorlas, war diejenige André Bretons.

In dem freigehaltenen Teil des Zimmers, ganz zur Linken und gegenüber der Stelle, wo die Zeremonie beginnen sollte, stand starr und bewegungslos ein junger Mann hinter einem Dirigentenpult, auf dem ein paar lose Blätter lagen. Nach der Stille, die der Lesung des Testaments folgte, ging die Tür auf und gab den Blick auf ein phantastisches Monstrum frei. Das Zeremoniell der Vollstreckung des Testaments von Marquis de Sade durch Jean Benoît begann. Der Einzug des Monstrums in das Zimmer vollzog sich seltsam stockend und ungestüm zugleich. Zwei in seinen hohen Schuhen verborgene Autohupen ließen abwechselnd ein schrilles und ein dumpfes Geräusch laut werden.

Gebeugt und wie erschlagen vom Gewicht einer Maske mit vier übereinander getürmten Köpfen, einem wahren Totem der Anonymität, bewegte sich das Ungeheuer an üppig verzierten Krücken vorwärts, wobei es einen gewaltigen, eiförmigen Bauch vor sich her schob und am rechten Schuh ein Wägelchen von gleicher Farbe wie das Kostüm, die Flügel, die Maske und die Krücken hinter sich her zog: silbergrau oder goldbraun und nachtblau mit roten Punkten: Glut unter der Asche.

Als die Gestalt mühsam in der Mitte des freigehaltenen Raums anlangte und stehenblieb, fühlten sich die hundert schweigenden Zuschauer in dieser Wohnung, in der sie noch wenige Minuten zuvor so angenehm miteinander geplaudert hatten, seltsam aus ihrer vertrauten Alltagswelt gerissen. Das Gefühl des Unbehagens war wirklich überwältigend: Jeder versuchte, sein eigenes so gut als möglich hinter einem Vorhang von Meinungen zu verstecken. Dann begann die Zeremonie der methodischen Entkleidung des Monstrums, die durch einen Text erläutert wurde, den der Mann am Pult mit ausgeglichener, neutraler, ziemlich kalter Stimme und in einem weder pathetischen noch vertraulichen Ton vorlas.

Die blonde, schwarz gekleidete junge Frau [Benoîts Ehefrau Mimi Parent – der Übers.] nahm Stück für Stück die Entkleidung des Ungetüms vor. Jedes Teil des Kostüms, das sie abnahm, wurde an die Wand gehängt, und so löste sich das Totemwesen, das fügsam und fast mechanisch den Drehbewegungen nachgab, in die die junge Frau es versetzte, um den Zuschauern die verschiedenen Seiten des Kostüms zu zeigen, nach und nach in eine in ihre Einzelteile zerlegte Rüstung auf.

Sie nahm ihm die Maske ab. Eine andere, verdutzt und erstaunt dreinblickende Maske erschien. Dann das schwarz geschminkte Gesicht mit seinen blutroten Lidern und Ohrmuscheln. Dann der vollständig schwarz bemalte Körper, auf den dieselben flammenartigen Pfeile gezeichnet waren, die auch das Kostüm aufwies. Und schließlich das unter einem riesigen Phallus aus schwarzem, mit Stroh geschmücktem Holz verborgene Geschlecht.

In diesem Augenblick hörte ich dicht neben mir jemanden flüstern: »Das ist der dunkle Punkt der Frage.« Um eine Erektion zu simulieren, hob dann Jean Benoît, dessen Körper die Anstrengung dieser langsamen Zeremonie verriet, die er in jeder Einzelheit erdacht und vorbereitet hatte, den Phallus, indem er die Kordel, die an ihm befestigt war, in einen Ring in seiner rechten Hand einhängte. Unter dem Phallus erkannte man zwei Spiegel in Form von Sanduhren, von denen der eine nach dem Ebenbild der Frau, der andere nach dem des Mannes gestaltet war. Die blonde, junge Frau zündete in einem Behälter, der vor ihr auf dem Boden stand, ein Feuer an und tauchte einen Eisenstab mit phallischem Griff hinein. Die Flammen spiegelten sich einige Sekunden lang in den Sanduhrspiegeln. Der Phallus sank herab.

Genauso rasch und plötzlich, wie alles Bisherige langsam vor sich gegangen war, riss sich Jean Benoît den roten Stoffstern ab, der sich an der Stelle seines Herzens befand, warf ihn ins Feuer, packte das erhitzte Eisen mit dem phallischen Griff und drückte sich an der Stelle, wo der Stern gewesen war, die Buchstaben SADE auf die Haut. Sein Blick, der dank der schwarzen Schminke in einem helleren, intensiveren Blau als gewöhnlich strahlte, erschien mir scharf und durchdringend wie eine plötzlich hervorgezogene Klinge. Dann schwang er das Eisen mit den Buchstaben SADE, mit dem er sich soeben gezeichnet hatte, über dem Kopf und rief den Anwesenden zu: »FÜR WEN BESITZT DAS EISEN ÜBERZEUGUNGSKRAFT?« und verschwand, nachdem er das Eisen ins Feuer zurückgeworfen hatte, durch eine kleine Tür.

Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung. Während der ganzen Zeremonie war außer den vom Rezitator mit unbeirrter Stimme gelesenen Sätzen des erläuternden, mit Zitaten durchsetzten Textes kein einziges lautes Wort gesprochen worden.

Da drängte sich Matta, der den letzten Teil der Zeremonie mit großer Spannung verfolgt hatte, zwischen den Umherstehenden hindurch und trat in den freigehaltenen Raum des Zimmers; er löste seine Krawatte, nahm seinen Hemdkragen ab und drückte das Eisen auf seine Haut. [Aufgrund dieser spontanen Handlung wurde der chilenische Maler, 1948 aus moralischen Gründen aus der surrealistischen Gruppe ausgeschlossen, wieder in die selbige aufgenommen – der Übers.] Jemand wollte es ihm nachtun: Eine Frau hinderte ihn daran. Die Zeremonie war offenbar zu Ende.

Jean Benoît zufolge, der das Kostüm erdacht und hergestellt hat, versinnbildlicht der gesamte Apparat »die symbolische Übertragung des Grabes von D.A.F. de Sade“, und seine Farbe wurde »speziell zu dem Zweck konzipiert, im warmen Licht der untergehenden Sonne ihre ganze Intensität zu entfalten«. Alle Flammenpfeile, die das Kostüm schmücken, verlaufen vertikal oder schräg oder gekrümmt: Keiner liegt horizontal. So gibt es zu jeder Einzelheit einen symbolischen Schlüssel. Insgesamt genommen sollen sie zu einer Auferstehung des mythischen Lebens anregen. Sie sind in absoluter Treue zu einer traditionellen Zeichensprache konzipiert: Man braucht nur eine Maskenausstellung im Musée Guimet zu besuchen, um zu ermessen, was für eine Fülle von Riten und Bedeutungen Jean Benoît in diesem Kostüm zum Ausdruck gebracht hat.

Der Akt, sich die Buchstaben des Namens Sade einzubrennen, ist in einer so geschwätzigen und so wenig an Gebärden interessierten Gesellschaft wie der, in welcher derzeit die Künstler in Paris leben, offensichtlich eine Herausforderung. Eine Herausforderung an den Konformismus, eine Herausforderung an die Faulheit, eine Herausforderung an den Schlaf, eine Herausforderung an alle Formen der Trägheit im Leben wie im Denken. Es ist natürlich klar, dass eine derartige Zeremonie, die in absolutem Gegensatz zum vulgären Charakter unserer Zeit steht, in den Salonkonversationen unserer angeblichen Intellektuellen nur ein Gegenstand des Spotts sein kann. Dabei ist sie doch eine Erinnerung an das Wesentliche, das heißt an jene geheimnisvolle Achse, um die sich der Mensch dreht und die tantrischen Hindus kundalini nennen – die Energie, welche der Geschlechtsakt freisetzt und die es gestattet, einige Sekunden lang die verriegelten Tore unseres Menschseins zu sprengen.

Alain Jouffroy

Übers. Heribert Becker

Jean Benoît

Der Nekrophile

Paris, Galerie de l’Œil, 7. Dezember 1965



Le Nécrophile, 1965 (Kostüm für ein Theaterstück von Fernando Arrabal)

E

ingezwängt zwischen Steinen der Hof. Seit 18 Uhr 30 wandelt dort zwischen zwanzig Baustellenleuchten (an- und ausgehend) die Besucherschar umher. Durch die zweite Tür links geht’s hinein: der Datenzerarbeiter [eines der Objekte der Ausstellung »L’Écart absolu« (Die absolute Abweichung, Paris 1965–66). Nachstehend werden weitere genannt, u.a. der Fiaskobogen (Gegenteil eines Triumphbogens), der Konsument, der ballernde Sessel, ein surrealistisches Möbel, das Autobüfett usw.] – ein Spiegel, der durchbrochen wird − , die Objekte, die Gemälde, die Intentionen, der Fiaskobogen, der Konsument – ein Einwegspiegel – die Gemälde, die Intentionen, die Objekte, die surrenden bunten Glühbirnen, die Würfel, dann wieder der Hof, zwanzig Baustellenleuchten (an- und ausgehend), die umherwandelnde Besucherschar, der Knochensaal – rechts am Ausgang − , die Bienenschuhe, der ballernde Sessel, das Autobüfett, der untermalende Schemel, die vibrierenden Perlen, die Intentionen, die Objekte, die Gemälde…

Gegen 22 Uhr fängt es zu rumoren an. Gesagt wird nichts, aber das Warten beginnt zu sprechen. Fixierungspunkte: das Schaufenster zur Rue Séguier und eine geschlossene Tür – die dritte links, in der Ecke − , die gleichwohl nichts hat, was das Auge anzieht. Gleich wird etwas passieren: Wenige wissen, alle spüren es. Es ist wie vor einem Gewitter: nervöses Hin und Her, stickige Luft, nicht-euklidische Flugbahnen, anschwellendes Stimmengewirr, Beben der Sinne, innere Unruhe und gespannte Erregung.

Schließlich 22 Uhr 15. Spots auf die geschlossene Tür, gezückte Kameras, abrupte Stille. Langsam öffnen sich die Türflügel: auf der Schwelle ein Phantasma. Bewegung. Eine Kette aus Armen schafft freien Raum, und das Phantasma – im Nekrophilenornat – schreitet langsam vorwärts. Sprachloses Staunen. Sehr hohe, feine Töne. Man hört das Unbewusste knistern. Der Blick des Phantasmas zeichnet für jeden die geheime Linie in den Raum, die vom Gegenwärtigen zum Vergegen-wärtigten verläuft. Leute, die gerade noch gescherzt haben, sind nun still, wenn auch bei manchen das starre Lächeln der Abwehr auf die Gesichter tritt. Dennoch ein paar Worte, wie Kugeln: »Unglaublich!«, »Ist das ein Automat?«, »Ich habe Angst!«, »Platz, Platz!«...

Beschreibung des Kostüms. Auf den Schultern eine große Halskrause aus neununddreißig kleinen Grabkreuzen, dazu eine Familiengruft, sie alle versehen mit den Namen großer weiblicher Gestalten aus allen Epochen: Messalina, Louise Labé, Ninon de Lenclos, Paulina Borghese, Jeanne Duval usw. An dieser Halskrause hängend an die zwanzig schwarze Vögel – die Raben auf dem letzten Gemälde Vincent van Goghs – und ein weiter Umhang, wie jener Baldachin, mit dem man bei Beerdigungen das Kirchenportal schmückt; unten weitet er sich und wird zu einer Art »Schwalbenschwanz«, wie Sargträger ihn tragen; die Rückseite lässt eher an ein Messgewand denken: darauf aufgenäht ein Kreuz mit breiten Balken, auf denen ein Sarg abgebildet ist, in dem der Kopf einer sehr schönen Frau ruht, der wiederum aus zwei Schädeln von Skeletten besteht, die Katzenaugen haben und wappenartig miteinander verbunden sind. Darunter ein Satz, der die größte aller Herausforderungen darstellt: »Tod, auf dich lauert das Leben.« Von einem Trikot eng umschlossen, erscheint der Körper unter dem Umhang wie eine unübersteigbare Friedhofsmauer, ein entschiedenes Verbot unheilbringender Lüste. Um die Taille eine dicke Kette, von der alle Werkzeuge, die der Totengräber benutzt, herunterbaumeln, und um den Hals ein phallischer Anhänger mit einer weiteren Aufschrift: »Huldigung an den Gerichtsdiener Bertrand«, jenen Mann, der bekanntlich der erstaunlichste Nekrophile aller Zeiten war. Füße und Hände sind mit den Klauen des Großen Ameisenbärs versehen; das aus Gliedsegmenten bestehende Geschlechtsorgan reicht bis zum Boden wie der Schwanz eines Tiers. In der rechten Hand ein großes Zepter, dessen Knauf aus einer auf dem Rücken liegenden Riesenspinne besteht; auf den Enden der Füße dieses Tiers balancieren, einander gegenübersitzend, der Engel und der Dämon und halten in ihrem Netz hängende kleinere Spinnen. Das Gesicht ist in demselben grauen Farbton geschminkt, in dem das ganze Kostüm gehalten ist, und auf dem Kopf sitzt eine Totenmaske, deren Schädelpartie das Streifenmuster und den Samtglanz des Nachtfalters aufweist. Die einzigen Farben, die sich von der Morgendämmerungstönung abheben, in die das ganze Phantasma gehüllt ist, liefern die grünen Augen und die blutrote Mundhöhle.

Die Hand greift nach einem Lächeln: Dieses erstarrt sogleich wie eine Fotografie im Säurebad. Pflastersteine. Noch ein paar Meter. Schließlich tritt der Nekrophile, sich nach rückwärts von den Besuchern entfernend, in den großen Ausstellungsraum, der ihn gleichsam aufsaugt. Allein im Zentrum des Kubus, richtet er alle Strahlen des Bösen auf die hinter der Glasscheibe versammelten Gesichter. Seine Gebärden sind präzise wie ein Skalpell, und er operiert ohne Netz. Jede Anästhesie ist nutzlos: Die Ungeheuer, die unsere verbotenen Regionen bevölkern, tummeln sich jenseits des Fleisches. Wir streifen dicht an Abgründen entlang wie ein Eisenbahnzug im Gebirge, nur dass es hier keine Schienen gibt. Es schwindelt einen. Zwei, drei Minuten, länger nicht, aber in dieser Zeit sind dunkle Mechanismen in Bewegung geraten. Dann die Auflösung des Phantasmas. Der Nekrophile kehrt durch die Tür der Trancen in sein gläsernes Gehäuse zurück und lässt uns mit unseren stets von Hoffnung erhellten Ängsten allein. Eine mandeläugige Frau weint, weil sie nicht näher an ihn heran kann. Wozu auch?

Dies alles geschah am 7. Dezember 1965 in der Galerie de l’Œil, bei der Vernissage der XI. Internationalen Ausstellung des Surrealismus, die den Titel »L’Écart absolu« (Die absolute Abweichung) trug. Das Kostüm des Nekrophilen stammte und wurde getragen von Jean Benoît, dessen denkwürdige Vollstreckung des Testaments von Marquis de Sade im Jahre 1959 der erste wirkliche Versuch war, an die Stelle der überkommenen Regeln der Theateraufführung die grausame Pracht des Zeremoniells zu setzen.

Alain Joubert

Übers. Heribert Becker

Objekte – Objects – Objets


© Jean Benoît, 2016