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»Malen, wie man träumt«

Jean-Claude Charbonel über seine künstlerische Arbeit


Ich denke, daß der Film Les Voyageurs du temps des rêves armorigènes (Die Reisenden aus der Zeit der armorigenen Träume) von Ludovic Tac viele Antworten auf die Frage nach der Eigenart meiner Malerei enthält, zumal mir seine Zielsetzung mit folgender Feststellung José Pierres in Einklang zu stehen scheint: »Allgemeine Schlußfolgerungen aus einer gewissen Wesensgleichheit zu ziehen, die man zwischen dem onirischen, dem mythischen und dem poetischen Denken feststellen kann, scheint von Beginn an das wichtigste Bestreben des Surrealismus gewesen zu sein. Wie die Psychoanalyse gezeigt hat, hat diese Wesensgleichheit ihre Wurzel im Automatismus.« Dennoch will ich versuchen, einige zusätzliche Informationen zu liefern.
Am Anfang, das heißt Ende der 50er und ganz zu Beginn der 60er Jahre, habe ich zunächst Träume malend darzustellen versucht, ein Bemühen, dessen Grenzen ich rasch spürte. Dann habe ich eine Art des Zeichnens praktiziert, das ich insofern »automatisch« nannte, als ich versuchte, es der Kontrolle des Denkens zu entziehen (etwa wie bei Zeichnungen, die man beim Telefonieren oder bei langweiligen Sitzungen macht). Ferner habe ich – immer noch am Anfang meiner Tätigkeit – an der Untersuchung von Materialien gearbeitet, die dem Zufall Raum gewährten und die auch etwas mit einem gewissen Interesse an der Alchemie zu tun hatten. Dann folgte das Suchen nach Fundgegenständen (objets trouvés) – Strandgut, altes Handwerkszeug, Steine – , eine Suche, die insbesondere durch die Entdeckung des ersten Abbilds der Nofretete im Jahre 1962 ausgelöst wurde. Um die gleiche Zeit begann ich mich für die Entdeckung von automatischen Techniken (mechanischen oder gestischen) zu interessieren, von denen René Passeron mehr als dreißig aufgelistet hat. Ich denke zum Beispiel an Óscar Domínguez’ Decalcomanien ohne vorgegebenes Thema, an die Frottagen und Grattagen von Max Ernst, an die Fumagen Wolfgang Paalens, an die Rayogramme Man Rays, die in gewisser Weise meinen Zerstäubungs- und Spraybildern ähneln, ferner an die Collage, an das Dripping und andere gestische Verfahren…
Entre deux âges
Ludovic Tac
Entre deux âges, Syllepse, Paris 2001
Bei der malerischen Umsetzung des Automatismus ging es für mich nicht um die Benutzung bekannter Rezepte, etwa darum, den Stift oder den Pinsel einfach nur über das Papier laufen zu lassen, sondern um ein introspektives Experimentieren, das Zugang zu dem eröffnet, was André Breton als »inneres Modell« definiert hat.
In diesem Sinne funktioniert die Suche nach den Fundgegenständen, nach Strandgut, Steinen usw., ganz ähnlich. »Jeder in Ihrer Reichweite befindliche Abfallgegenstand ist als Niederschlag der Begierde zu betrachten«, erklärte André Breton 1936. Wenn man zu mehreren über den Strand geht, findet nicht jeder dieselben Dinge. Jeder identifiziert sich mit einem Gegenstand oder einer Form mehr als mit anderen, einem Gegenstand oder einer Form, die man »erkennt«, so wie man auf einem Blatt Papier oder auf einer Leinwand einen Fleck, eine Spur, eine Decalcomanie erkennt, die im Licht des nie Gesehenen Zugang zur mentalen Landschaft gewähren… zum inneren Modell.
Die Dinge und Formen, auf die ich bei meinen Spaziergängen zufällig stoße, sind genau solche, die ich nicht gesucht habe, das heißt, an die ich nicht dachte und die mich irgendwie überraschen. Diese Fundobjekte wie auch die Formen und Materialien, die aus der Tätigkeit hervorgehen, die auf dem Blatt Papier oder auf der Leinwand den Zufall ins Spiel bringen, sind Auslöser von Imaginärem, Initialzünder, die die Herstellung eines Gemäldes oder einer Assemblage bewirken können, ohne daß ich zu Beginn weiß, wohin mich die Arbeit führt.
Seit der Entdeckung der ersten Nofretete-Abbilder (cf. den Film De Néfertiti aux Armorigènes von Ludovic Tac) ist mir bewußt geworden, daß die Fundgegenstände meistens ein »Profil« hatten, das ich gern »enthüllen« oder hervortreten lassen wollte, indem ich Farbe darüber sprühte, so wie der prähistorische Schamane auf den Höhlenwänden die Negativform von Händen etc. »enthüllt« hat, oder wie Man Ray, der das Licht benutzte, um auf Photopapier den Abdruck von Gegenständen zu erhalten. Auch ich erhalte so Abdrücke, es treten Formen hervor, die sich auf der Bildfläche mit anderen verbinden, obwohl doch nichts sie dazu prädisponierte, sich je zu begegnen. Es ist vorgekommen, daß ich in ein und derselben Arbeit Strandgut benutzt habe, das ich an der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms in Kanada gefunden hatte, anderes, das von afrikanischen Stränden des Indischen Ozeans, aus Martinique oder aus der Bretagne stammte. Das Miteinanderkombinieren von Abdrücken von Dingen aus unterschiedlichen Naturbereichen und Herkunftsländern hat zum Beispiel zur Entstehung der »Armorigènes« geführt. Dem Abdruck, der sich aus der Benutzung des Fundgegenstands als Schablone ergibt, vermag die Begegnung oder die Konfrontation mit anderen Gegenständen einen weiteren Auslösereffekt hinzuzufügen. Zudem kann die Bildfläche, auf der diese Begegnungen stattfinden, durch das Spiel der automatischen (mechanischen oder gestischen) Verfahren der Schauplatz der Entstehung einer mineralischen, pflanzlichen, unterseeischen Welt gewesen sein oder werden. Es ist das Miteinanderkombinieren dieser verschiedenen Arbeitsschritte, das Édouard Jaguer als Automatismus mit mehreren Geschwindigkeiten oder mehrgängigen Automatismus bezeichnet hat. Es handelt sich dabei für mich um ein Verfahren, das darin besteht, zu malen, wie man träumt, anstatt ein vorab konzipiertes Werk zu realisieren.
Das Ergebnis der automatischen Praktiken erscheint wie »ein Sprungbrett ins Imaginäre«, wie René Passeron schreibt, »insofern ist der Surrealismus systematischer Umgang mit der Inspiration.« Es geht nicht darum, sich mit glücklichen Zufällen zu begnügen, sondern darum, deren Resultate gestalterisch zu verändern, aber nicht aufgrund ästhetischer Erwägungen, sondern um »ihre Schockwirkung, ihre objektive Fremdartigkeit zu steigern«, wie Passeron schreibt. Durch diesen Interpretations- oder Lektüreprozeß, der sich in nachträglichen Eingriffen manifestiert, präzisiert sich das Bild in Einklang mit dem inneren Modell und tritt in kohärentem Zusammenhang mit der neuen Bedeutung, deren Träger es ist, hervor. So muß, wie mir scheint, sein mehr oder weniger ausgearbeitet, bewußt gestaltet wirkendes Aussehen mit der Tatsache verglichen werden, daß beim Praktizieren des automatischen Schreibens der Wortstrom, so spontan er ist, sich doch an die Regeln der Syntax hält..
[…]
Zerstäuben und Sprayen: Benutzung eines Gegenstands als Schablone, dessen Abdruck auf der Bildfläche mittels einer Spraydose, eines Farbzerstäubers oder einer Malpistole hergestellt wird.

Aus einem Brief Jean-Claude Charbonels
an Heribert Becker, 12.1.2007
Übers. Heribert Becker


© Jean-Claude Charbonel

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