Guy Ducornet

Surréalisme et athéisme

Boulogne-Billancourt (Gingko éd.) 2007

257 Seiten  


 

Guy Ducornet, der sich selbst als Surrealist versteht, hat sich u.a. durch zwei kritische Bücher zur Rezeption des Surrealismus in den USA einen Namen gemacht: Le Punching-ball & La Vache à lait. Le Surréalisme face à la critique universitaire nord-américain, 1992, und Les Parasites du surréalisme. La Critique américaine versus André Breton, 2002. Soeben hat er nun die oben genannte Studie herausgebracht, in der er das Verhältnis der surrealistischen Bewegung zur Religion allgemein und zum christlichen Monotheismus im besonderen darstellt, und zwar von den Anfängen jener Bewegung bis in die unmittelbare Gegenwart. (Obwohl das einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt ist, existieren nämlich in verschiedenen Ländern immer noch, über achtzig Jahre nach der Publikation des Manifests des Surrealismus (1924), mehrere z.T. recht aktive surrealistische Gruppen.)

Völlig zu Recht beklagt Ducornet die Tatsache, daß die radikale Ablehnung der monotheistischen Religionen, namentlich des Christentums, seitens des Surrealismus als einer der Grundpfeiler des Denkens dieser auf eine radikale Veränderung der Welt zielenden Bewegung in neueren Publikationen und Ausstellungen beinahe systematisch unterschlagen und der Öffentlichkeit so fortwährend ein gefälschtes Bild des Surrealismus vermittelt wird. (Ein Beispiel von vielen für diese Art von geistiger Geschichtsklitterung ist die vor einigen Jahren in Paris und Düsseldorf gezeigte, von dem „Experten“ Werner Spies kuratierte große Surrealismus-Ausstellung.)

     Ducornet unterstreicht, daß es nie irgendeine Spur von Gemeinsamkeit zwischen Surrealismus und Gottgläubigkeit (egal, um welche Konfession es sich handelt) gegeben hat.  An einen Gott oder an ein Jenseits zu glauben, war – und ist – für einen Surrealisten völlig undenkbar: Es versteht sich von selbst. Das gilt für alle Surrealisten, mögen sie Breton, Aragon, Eluard, Desnos, Péret, Ernst, Magritte, Buñuel oder sonstwie heißen. Noch 1954 antwortete André Breton auf eine Umfrage („Warum glauben Sie nicht an Gott?“) sozusagen stellvertretend für alle seine Mitstreiter: „Das ist, als würden Sie mich fragen, warum ich nicht – beispielsweise – an fliegende Krokodile glaube. Zwei Jahre zuvor sprach er von der „hanebüchenen Vorstellung des »Todes Gottes«, die für mich ein absoluter Nonsens ist, denn Sie werden mir einräumen, daß man, um tot zu sein, erst einmal existiert haben muß“. Für ihn und seine Freunde ist „Gott“ „der schändlichste Begriff“, den Menschen je ersonnen haben, und die Religion, zumal die katholische, ist „der erbitterte Feind des Menschen“, ein Feind vor allem der geistigen und moralischen Freiheit, wie der Surrealismus sie fordert. „Der Religion gegenüber“, so Breton 1952, „ist die surrealistische Position nach wie vor so kompromißlos wie am ersten Tag. Es besteht eine unlösbare Spannung zwischen dem surrealistischen Wunsch, in die Bedeutung der alten Mythen einzudringen wie auch das Geheimnis ihres Entstehens wiederzufinden, einerseits und andererseits der Kanalisierung des menschlichen Bedürfnisses nach Wunderbarem, welche dieses oder jenes religiöse Dogma zum Vorteil einer Kirche betreibt, die in ihrem Prinzip diskreditiert und aufgrund ihrer Taten für alle Zeiten entwürdigt ist.“

Für die Surrealisten ist die Religion ein Abfallprodukt der Poesie. Diese ist „der wahre Atem des Menschen“, die „Essenz der Wirklichkeit“ (Benjamin Péret) – das, worin der Mensch über sich hinausgeht und eben dadurch er selbst wird. Sie ist der Inbegriff von Freiheit, gegen alle weltlichen und religiösen Ideologien und Dogmen, und so ist es Aufgabe des Dichters, „die stets gotteslästerlichen Worte und die fortwährenden Blasphemien auszusprechen“ (Péret). Die Religion stammt von der Poesie ab – vom „menschlichen Bedürfnis nach Wunderbarem – , aber sie ist entartete Poesie,  zum Dogma erstarrt, ins Gegenteil verkehrt, auf Macht und Herrschaft, auf Knechtschaft und Unterdrückung aus: Unfreiheit. So ist der Priester die Gegenfigur des Dichters: ein Usurpator der Poesie, ihr Feind, „ihr Mörder“ (Péret).

Aufgrund dessen begnügten sich die Surrealisten nicht mit einer bloß passiven Ablehnung des Christentums und der Religion als solcher, sondern bekämpften – und bekämpfen – militant jede Gottesidee, jede Art von Jenseitsvorstellung und jedes religiöse Dogma sowie alle diejenigen, die solche Ideen und Ideologien in die Gehirne der Menschen zu pflanzen suchen. Die Texte und bildnerischen Werke, in denen die Surrealisten zahlreicher Länder ihren Atheismus, ihre Areligiosität, ihren Abscheu vor dem Christentum und ihren kämpferischen Antiklerikalismus bekunden, sind so zahlreich, daß sie Bände füllen würden.

Zu den im Ton schärfsten antichristlichen Texten der Surrealisten gehört – um hier ein Beispiel zu nennen – die Flugschrift Au feu! (Es brennt!) von 1931. In diesem Jahr war in Spanien die Republik ausgerufen worden, womit sich für viele die Hoffnung verband, die Menschen dieses Landes könnten sich nun endlich von ihrer erbarmungslosen Knechtung durch eine von der katholischen Kirche gestützte Oligarchie befreien. Jedenfalls brannten bald zahllose Kirchen und Klöster, und der reaktionäre spanische Klerus wurde außer Landes gejagt. Enthusiastisch begrüßten die Surrealisten diese Ereignisse: „Eine Kirche, die noch steht“, schreiben sie in Au feu!, „ein Priester, der noch die Messe lesen kann, sind allemal eine Gefahr für die Zukunft der Revolution. Die Religion mit allen Mitteln zu zerschlagen, die Denkmäler der Dunkelheit, in denen die Menschen auf den Knien gerutscht sind, bis auf ihre Überreste auszulöschen, die Symbole zu vernichten, die man unter Hinweis auf ihren künstlerischen Wert vergebens vor dem großen Volkszorn zu retten versuchen würde, das Pfaffenpack auseinanderzutreiben und es bis in seine letzten Schlupfwinkel zu verfolgen – das ist es, was die Volksmassen Madrids, Sevillas, Alicantes usw. in ihrem unmittelbaren Verständnis der revolutionären Aufgaben ganz von sich aus unternommen haben. Alles, was nicht Gewalt ist, wenn es sich um die Religion, den Popanz Gott, die Gebetsparasiten und die Lehrmeister der Schicksalsergebenheit handelt, ist einem Paktieren mit diesem wimmmelnden Geschmeiß des Christentums gleichzusetzen, das ausgerottet werden muß.“ Unterzeichnet war diese Stellungnahme u.a. von Louis Aragon, André Breton, René Char, René Crevel und Paul Eluard.

Ducornet zitiert in seinem Buch aus einer Vielzahl solcher Texte, wohingegen der Beitrag der bildenden Künstler des Surrealismus, der quantitativ und qualitativ nicht minder bedeutend ist, leider kaum dokumentiert wird (aus Kostengründen, wie man annehmen darf). Lediglich ein wichtiges Dokument des surrealistischen Atheismus und Antichristentums, der von der Pariser Surrelistengruppe 1948 publizierte Text À la niche, les glapisseurs de Dieu! (Ab in eure Hütte, ihr Kläffer Gottes!) wird in extenso präsentiert, und zwar nicht nur im französischen Original, sondern gleich in neun Übersetzungen, darunter eine deutsche. Das Pamphlet erschien zu einer Zeit, als katholische Kreise den dreisten Versuch unternahmen, den Surrealismus für sich zu vereinnahmen – als ein letzten Endes und im Grunde christliches Phänomen! Wütend wiesen die Autoren des Textes dieses Ansinnen als intellektuelle Schandtat des – wie sie schreiben – „betrügerischen Gesindels der Kirchen“ zurück. Nach wie vor könne ihnen „die Gottesvorstellung […] nur ein Gähnen der Langeweile entlocken“, was sie aber nicht daran hindern werde, weiterhin mit allen Mitteln gegen die Religion und ihre Akteure vorzugehen. Und nachdrücklich bringen sie am Schluß ihren „unwandelbaren Widerwillen gegen jedes Auf-den-Knien-Rutschen“ zum Ausdruck. Der Text wurde seinerzeit von einundfünfzig Surrealisten unterzeichnet. Ducornet legte ihn im März 2006 einer Anzahl lebender Surrealisten und dem Surrealismus nahestehender Personen nochmals zum Gegenzeichnen vor. Diesmal unterschrieben einhunderteinundneunzig Gegner des Christentums aus vielen Ländern.

     Manche mögen fragen: Was soll das alles heute noch – Zurückweisung der Religionen, Kampf gegen das Christentun, Antiklerikalismus? Ist das nicht längst obsolet, prügelt man da nicht auf Leichen herum? Derlei Ansichten hört man häufig. Aber, Gegenfrage: Was ist heute mit den von christlichen Sekten buchstäblich verseuchten Vereinigten Staaten, deren christlich inspirierte und vom Christentum gestützte Machteliten an der Abschaffung von Freiheit und Menschenrechten arbeiten? Was ist heute mit den menschenverachtenden Auswüchsen des religiösen Fanatismus in gewissen islamischen Ländern? Was ist heute mit den Verheerungen, die eine Priesterherrschaft wie diejenige im Iran anrichtet? Und, ganz abgesehen von solchen finsteren Aktualitäten, ist in unserer westlichen – der christlich-abendländischen – Zivilisation nicht selbst der unbeugsamste Atheist, ob er will oder nicht, ein geistiger Erbe des christlichen Denkens? Eben dieses offen oder latent in unseren Gehirnen weiterwirkende Denken so bald und so gründlich wie möglich durch ein radikal anderes Denken zu ersetzen, war und ist das große Ziel des Surrealismus.

Heribert Becker