Christian Saalberg
Gedichte aus
Das Weite suchen
IN DER UNDURCHSICHTIGEN REGION DES MORGENS, der
ein Wald voller Schlingen ist, richtet sich
Meine Aufmerksamkeit auf die Waage, über deren
nackte Schulter das Morgenrot sein Haar
Fallen läßt, bis sich die Schale zum Tal hin neigt,
eine Mauer entlang, die so glatt ist, daß der Blick
Sich nicht auf ihr halten kann.
(In Wahrheit sind Mauern aufrecht stehende Plätze,
auf denen an gewissen Tagen der Regen die Stille
Aus den Löchern treibt, in die sie sich verkrochen hat.)
Man hat den Regen vor die Wahl gestellt, ob er ein
Trommler werden will oder (sagen wir es so)
Ein ordentlicher Mensch.
Hierzu will ich mich nicht äußern.
Bin ich doch in PRAG, einer Stadt, über der tags ein
tiefer, flüchtiger Himmel steht und nachts der
Große, gelbe Mond, der auf seinen Fluren die Ziesel
ins Getreide lockt.

MIR GEHT ES NICHT UM DIE RETTUNG der Altstadt
von Aleppo.
Ich stoße mein Messer in den Stein, damit er dicht
am Boden bleibt (á meme la terre) und sein
Leben herausrückt, das über Nacht gealtert ist.
Ich überlasse es den schwarzen Bienen, sich um die
gemarterten Blumen zu kümmern, die auf ihrem
Reiseweg ins Jenseits einem gnadenlosen Glanz
begegnet sind.
Auf der Konsole stehen Schatten mit feurigem
Federbusch.
Sie zählen die Passanten an den Fingern her und
hören erst nach der dritten Mitternacht auf,
wenn das Segel in der Mitte durchgerissen ist.
Grünspan, wo die Stadt vor Anker liegt und darüber
das große Durcheinander der Sterne, die
Umherirren wie die Fische nach der Sintflut im
Meer.
Die Nacht macht sich schwer, bevor der Tag sie
bündelt und auf den Karren wirft.

DIE BÜSTE AM QUAI VOLTAIRE sah mich verwundert an,
als ich sie fragte, ob ich das Leben von ihr
Haben könne, das ganze.
Sie zeigt auf eine junge Frau, die an der Metrostation
MERCADET Tag für Tag Teile ihres Herzens
Verkauft, ohne Aufschlag für einen Rundgang durch
das zweiunddreißigteilige Assemblee der
Bodhisattwa auf dem Weg zur Erleuchtung.
Es gibt unbedruckte Spielkarten, weißgetünchten
Worten gleich, die in einem menschenleeren
Palast Verstecken spielen wie Vögel, die nach einem
Flügelschlag in der Luft verschwunden sind.
Ich lasse sie für mich leben.
Komm, leg dich zu mir.
Mein Kopfkissen ist der Tod, und mein Herz schlägt
nur noch selten.

ICH HABE MICH NIE GEWEIGERT ZU STERBEN.
Wie hätte ich sonst die Liebe gewagt, das riskante
Umschiffen einer Wade an einem späten
Nachmittag, das Flanieren der Fingerspitzen auf
einer halbentblößten Brust, diesen
Leichtsinnigen Umgang mit dem Feuer bei all
dem Papier in meiner Brust, das so leicht
Entflammbar ist?

KAUM HATTE ICH DIE HÄNDE DES ZUFALLS GEKÜSST,
lösen im Durcheinander der Nacht die Städte
Das Haar und die Schatten legen einen Teppich aus,
auf dem das Schweigen geräuschlos gehen kann.
Vor dem Theater gehen die Lichter an (ein General,
der sich mit Orden behängt), und von den Lippen
Der Laternen wehen Worte wie SCHNEE, BLINDE
FENSTER und GLÄSER VOLLER TRUNKENHEIT.
Die Vögel lassen sich in Sänften durch die Wälder
tragen, und im Fluß treibt der zierliche Leib einer
Frau.
Der Tod ist schneller als wir.
Immer kommen wir zu spät an unser Grab.
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