Ludwig Zeller

Gedichte, Collagen

Ein unglaubwürdiger Patient

»Da saß ich also seit tausend Jahren. Kann mich nicht
ausruh'n, nicht
schlafen, nicht sterben. Meine Augen fließen hinab auf
den Grund
des Glases …
So müde .......................... Ich möchte ....................«
Ich rate Ihnen
An nichts denken, dahintreiben unter der Haut
wie ein Fluß,
austrecken, die Glieder entspannt
auf dem Tisch,
Nur eine formlos-unbegrenzte Masse sein
wie ein jammernder, seinen Halbschatten
beweinender Sandsack.

Und jetzt hören Sie gut zu:
Machen Sie die Augen zu,
versuchen Sie,
die Türen zu öffnen … Wo sind wir?
Antworten Sie,
Wo sind wir?
(Stille)
(Aus der Tiefe)
»Ich bin blind, stumm, ich kann
nicht hören …
Meine Knochen nutzen sich ab
in der Luft …«
(Stille)
Erinnern Sie sich:
Wenn Sie wiederkommen, haben Sie
noch immer Ihr Haus.
Hier ist der Spiegel, und hier ist Ihre
mit Hinweispfeilen bedeckte Karte.
(Ich stolp're hinaus, verneige mich
entschuldigend.)
Ich lese unter den Lidern: »Kasse der Foltern«
Der beschlagene Spiegel
hindert mich, mehr zu sehen.
Suchen Sie!
Suchen Sie doch blutabwärts!

Santiago de Chile, 1954

Rate oder ich freß' dich

Die Geier fliegen im Kreis und glätten
die Flasche
fallen in hölzernen Splittern herab, picken
die Wolle, lassen sie bluten,
die Kohlengluten sind Landschaften
aus rauchenden Händen
Münder wachsen. Steine beißen uns
wie Fragen.

Es ist spät. Meine Mutter harrt noch immer
in den Ansichtskarten
Sie werden in Stößen zum verschwund'nen
Garten zurückkehren.
Beim Häuten des Gebüsches hör' ich
das Rätsel lodern.
Wenn Ödipus schweigt, was antwortet dann
die Sphinx?
1964

Aus Las reglos del juego, 1968


Wenn das Tier aus der Tiefe emporsteigt zerbirst der Kopf

Heut' kommen die Phantasmen und
auf dem Tisch der sich dreht
Seh' ich die Blumen sprießen unter
dem durstigen Schluchzen
Des Auges das in der Mitte der Schüssel
Das Kännchen mit seinem Öl und seinem
Skorpion ansieht.

Die Tage schlössen sich plötzlich, große
Blätter wuchsen
Wie Felle lauernder Leoparden, sie fragten
mich
Aramäisch nach meinem Namen, zerschlugen
die Flaschen
Vereister Strahlen, diese vom Meer geglätteter
Liebesreste.

Gewiß ist er überflüssig, sagten sie.
Die Turmuhr hat ihr Räderwerk
Durcheinandergebracht, diese Rollen werden
sich falschherum drehen
Und zwischen Tieren treibe ich mich
– heißblütiges Wesen –
Auf den Wegen umher, ich beiß' in die Zügel,
Einsamkeit.

Ich frage: Ist die Sonne erloschen? Die Kinder
weinen
Und aus den vier Ecken fühle ich Blasen
aufsteigen
Die rastlos die Balken belecken, die
abgescheuerten Kanten
Dieser Arche, unter einem Fieberbaldachin
geht die Kohle.

Ich will nicht die Gitarre zerbersten sehen
Ich will nicht im Kochtopf aufsteigen sehen
Das Auge mit den Krallen das wieder fragt
Ob zwei und zwei vier sind, ob die Gewässer
wirklich kochten.

Wo sind wir, meine Lieben? Die sandige Weite
der Schlaflosigkeit türmt sich auf,
Sammeln wir die Spielzeuge des Schreckens ein,
zünden wir die Lunte
Die den Mond in zwei Hälften teilt
und warten wir tausend Jahre …
Mein Tintenfisch
Meine Mutter inmitten der Tinte fängt
plötzlich zu schluchzen an.

Um den Geist zu öffnen.

Bis zum Halse begraben im Sand
Hör' ich das Summen der Propeller des Schreis
Der Himmel ist bewölkt und für immer
Seh' ich das Netz auf die Wasser fallen.

Da fühle ich wie die Steine dort oben
sich regen
Und Hände fahren auf meinen bemalten
Schädel herab
Der aufbrechend seinen bitteren Kern zeigt.
Bitter und ohne Trost.

Der elfenbeinerne Rabe ist ohne Gefieder
Und die Wasser stürzen hinab in den Abgrub
den keiner kennt,
Wird keine Haut, keine Hand dasein die sich
beim Absturz entgegenstreckt?
Sie haben mich mit glühender Asche
geblendet.

Ich habe keine Erinnerung mehr, sie haben
mir das Licht
Dieses Gedächtnisses fortgenommen, ich will
nur hinab, mich mit der Erde vereinen
Und mich vergessen, das Auge zumachen
können das sie geöffnet haben in mir
Und dann nie mehr die siedende Sonne sehen.

Schlaflosigkeit mit Schuppen

Allnächtlich schwimmt ein Fisch
durch meinen Schlaf
Und gräbt einen Weihrauchtunnel in die Kissen über die
Fensterscheibe aus Haut die
die Luft zerteilt
Schließt dann seine Lider, lauscht: rings
um mich die Wasser
Von einer Wandung zur andern fühl' ich
das Beben ihrer kristallischen Blätter.

Ist alles da? Gib mir Antwort! Woge dunklen
Bauches, Zeichen die einer dort
in die Tiefe schrieb
Wie Schrammungen des immer gleichen
Spiegels.
Wenn wir vom Fisch abstammen,
vom brennenden Knochen
Der verbissen sich müht in seinen Dornen sich
zu öffnen, wenn's kein Erbarmen gibt

Wenn Tag für Tag im Teich die Netze
ausgeworfen werden
Wo sind dann die Augen die uns betrachten,
wo die Wurzel
Dieses Klagens, die Gluten der Schlaflosigkeit
in den Kiemen
Welche sich blähen, sich dehnen, ein kaltes
Metall suchen?

Dieses Landes das langsam auf den trock’nen
Wandungen des Tages heraufsteigt und
die Wochen kommen meine Schuppen
einzusammeln,
Ich füge mich ein zwischen Wunden, frage
nach Freunden
Die es nicht gibt, die vom Regen zermahlener
Staub sind,
Ich fühle die Last jedes Stücks, jedes Teils
der Seele an das ich mich erinnere.

Ich frage: Seid ihr da? Seid ihr da? Unsichtbar
Schlagen die Nadeln auf dem vertrockneter
Webstuhl
Des Bildes und die Fensterscheiben
zerspringen, werden hart
Auf der Narbe der Strömung. Ich sehe Tränen
Auf dem Schlußgesicht, den Fisch der
allnächtlich blutbesudelt zurückkehrt
Auf meinem Kissen atmet, sich an meinem
Sauerstoff verbrennt
Und erwacht …
Hinter der Fensterscheibe
bin ich allein,
Vielleicht in einem andern Traum
Schreie ausstoßend.

Aus Quand l'animal des profondeurs surgit la tête éclate, 1976



© Ludwig Zeller, aus Heribert Becker (Übersetzer): Das surrealistische Gedicht, 3.Auflage, 2000, 2016