Toyen: Es ist geboren, das göttliche Kind, Plakat, Weihnachten 1951

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Die Parasiten des Surrealismus
 


Der Surrealismus war – und ist es in Gestalt einiger Dutzend über den Globus verstreuter Personen vielleicht immer noch – eine Bewegung, die wie kaum eine zweite die westliche Zivilisation in jeder erdenklichen Hinsicht – weltanschaulich, religiös, politisch, sozial, kulturell – in Frage gestellt hat. Er war – und ist – eine linke, eine revolutionäre Bewegung, die, über alle Literatur- und Kunstproduktion hinaus, „das Leben ändern und die Welt verändern“ wollte und sich dabei auf einen Begriff von Freiheit stützte, von dem Walter Benjamin schon 1929 schrieb, seit Bakunin habe es einen solchen in dieser Radikalität in Europa nicht mehr gegeben.

Es versteht sich von selbst, daß diese Bewegung von Beginn an, d.h. seit 1924, von bürgerlich-konservativer und reaktionärer Seite und bald auch seitens des „real existierenden Sozialismus“ unablässig und zum Teil sehr heftig bekämpft wurde. Diese Animosität hat sich trotz der Tatsache, daß zahlreiche surrealistische Dichter, Schriftsteller und Künstler längst als „Klassiker des 20. Jahrhunderts“ gelten, bis ins 3. Jahrtausend hinein fortgesetzt. Obwohl die Verächter und Schmäher des Surrealismus seit Jahrzehnten immer aufs neue versichern, die „Ideologie“ dieser Bewegung sei tot, fühlen sie sich bemüßigt, mit ihren Angriffen gegen diesen angeblichen Leichnam fortzufahren. Gerade in den letzten Jahren sieht sich der Surrealismus wieder wütenden Attacken ausgesetzt, deren Urheber nicht davor zurückschrecken, ihn für alle Übel der Vergangenheit und sogar der Gegenwart verantwortlich zu machen, beispielsweise für die Verbreitung des islamistischen Terrorismus. (Man erinnere sich der Ausfälle des französischen Kunsthistorikers Jean Clair im Jahre 2001: siehe Haben die Surrealisten das World Trade Center zerstört? in Die Aktion, Nr. 204, 2002). Es liegt auf der Hand, daß derartige Angriffe gegen ein radikal abweichendes, durch und durch antikonformistisches Denken wie das des Surrealismus Produkte des herrschenden Zeitgeistes sind, der sich heutzutage aus dem Dogma des Neoliberalismus speist, also einem Denken, das die Menschheit daran gewöhnen will, sich Illusionen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit definitiv aus dem Kopf zu schlagen.

Während die permanente Gegnerschaft bürgerlich-konservativer und reaktionärer sowie „kommunistischer“ Kreise in Frankreich das immense Gewicht des Surrealismus im Geistesleben des 20. Jahrhunderts nicht dauerhaft hat beeinträchtigen können, hat in Deutschland die weitverbreitete Ablehnung dieser Bewegung – bei gleichzeitiger Wertschätzung eines Teils ihrer Schriftsteller und vor allem ihrer bildenden Künstler – dazu geführt, daß surrealistisches Gedankengut nur eine begrenzte Verbreitung gefunden hat. Noch entschiedener aber hat sich, wie sich denken läßt, die Zurückweisung des surrealistischen Programms in den Vereinigten Staaten manifestiert, ungeachtet der Tatsache, daß amerikanische Museen und Privatsammlungen unzählige surrealistische Kunstwerke beherbergen, Werke, die man, nachdem man sie gleichsam aus dem revolutionären Nährboden, dem sie entsprungen sind, herausgerissen hat, auf ihre ästhetischen Qualitäten reduziert – und die man vor allem natürlich als materielle Werte schätzt.

Mit dem Surrealismus als ganzem, d.h. mit seinen künstlerischen und literarischen Hervorbringungen und mit seiner auf einen radikalen Umsturz zielenden Weltanschauung, befassen sich in den USA fast ausschließlich Universitätsprofessoren und vor allem -professorinnen. Man ahnt, was das bedeutet. Schon seit den 30er Jahren machen diese Gelehrten den Surrealismus zum Hauptthema ihrer akademischen Arbeit, sie haben zahllose Bücher zu diesem Gegenstand veröffentlicht und als Doktorväter und -mütter Hunderte von einschlägigen Dissertationen betreut, was alles in allem eine heute schier unübersehbare Flut amerikanischer Sekundärliteratur zum Surrealismus ergibt.

Guy Ducornet, ein französischer Autor des Jahrgangs 1937, der sich selbst als Surrealist versteht, hat sich in den Jahren, die er, teils als Dozent an Universitäten und Colleges, in den USA verbracht hat, der Mühe unterzogen, sich diese Unzahl professoraler Erzeugnisse über den Surrealismus ein wenig genauer anzusehen und daneben Hunderte von Doktorarbeiten zum gleichen Thema zu durchblättern. Vom Resultat dieser Lektüre hat er bereits 1992 in dem Buch Le Punchingball & La Vache à lait. Le Surréalisme face à la critique universitaire nord-américaine (Der Punchingball & Die Milchkuh. Der Surrealismus angesichts der Kritik nordamerikanischer Universitätsgelehrter, Paris – Angers 1992) berichtet. Zehn Jahre später veröffentlichte er eine verknappte Neufassung dieser kritischen Bilanz, die den Titel Les Parasites du surréalisme. La critique américaine versus André Breton (Die Parasiten des Surrealismus. Die amerikanische Kritik versus A.B., Soignies/ Belgien 2002) trägt und deren Urteil – um es vorwegzunehmen – so vernichtend ausfällt wie in der ersten Studie.

Obwohl während des Zweiten Weltkriegs eine beträchtliche Anzahl von Surrealisten, alle auf der Flucht vor Vichysmus und Nationalsozialismus, als Exilanten jahrelang in den Vereinigten Staaten lebten – André Breton, Marcel Duchamp, Max Ernst, Leonora Carrington, Roberto Matta, Yves Tanguy, André Masson, um nur einige Namen zu nennen – und dort auch, freilich vorwiegend im Bereich der bildenden Kunst, eine beträchtliche Wirkung auf junge amerikanische Künstler erzielten, beruht die Rezeption des Surrealismus in den USA auf einem gewaltigen Mißverständnis. Daran vermochte auch die seit 1966 existierende, übrigens stark politisch ausgerichtete amerikanische Surrealistengruppe um Franklin Rosemont und seine Freunde nicht viel zu ändern – oder allenfalls während der letzten Jahre, in denen sich diese Gruppe durch wichtige Publikationen mehr Gehör verschafft hat.

Clovis Trouille, Das große Gedicht von Amiens
Clovis Trouille,
Das große Gedicht von Amiens

Urheber des Miß- oder Fehlverständnisses ist, wie Ducornet ausführlich darlegt, in der Hauptsache eben jene kleine Heerschar amerikanischer Literatur- und Kunstgeschichtsprofessor/inn/en. Sie haben seit langem eine Art Monopolstellung in der Darstellung des Surrealismus inne, eine Position, die sie, auf allen einschlägigen Symposien und Kolloquien zugegen, eifersüchtig und autoritär gegen abweichende Meinungen verteidigen. Solche zu äußern, „käme für den, der sie vertritt, einem beruflichen Selbstmord gleich“, bemerkt Ducornet. Diese akademischen Mandarine, schreibt ihr französischer Kritiker, seien in der Regel, wie das Gros der amerikanischen Universitätsgelehrten, vollkommen unpolitisch und von den konkreten gesellschaftlichen Realitäten außerhalb ihres Campus meilenweit entfernt. Sie hätten, obwohl Spezialisten auf dem Gebiet des Surrealismus, dessen Exegese und Darstellung sie ihre akademischen Karrieren und finanziell gut gepolsterten Lehrstühle verdanken – während die Surrealisten selbst bekanntlich zumeist in Armut lebten – , nie begriffen oder einfach ignoriert, daß der Surrealismus eine Bewegung ist, die eine umfassende und tiefgreifende, über die Sphären von Kunst und Literatur weit hinausgehende Veränderung der Welt anstrebt und daß im Zentrum seines Denkens und Handelns die Revolte steht, die Rebellion gegen die bestehende geistige, moralische und materielle Wirklichkeit.

So wird der subversive Kern des surrealistischen Projekts, wie Ducornet zeigt, den amerikanischen Lesern seitens ihrer „Surrealistologen“ weitestgehend vorenthalten, wohingegen der eigentlich sekundäre ästhetische Aspekt – Literatur und Kunst – ganz in den Vordergrund tritt. Ducornet spricht von einer „systematischen Entschärfung dieser Zeitbombe [i.e. des Surrealismus], seiner Banalisierung, seiner Reduzierung auf die in den USA so populären harmlosen Gesellschaftsspielchen“. Heraus kommt ein sterilisierter, keimfreier, zu leicht verdaulichen Happen zurechtgeschnittener Surrealismus: ein Ismus unter anderen, geistiges fast food, Nicht-Surrealismus. Es ist, als beschriebe man den Papst und unterließe es zu erwähnen, daß er Katholik ist. Als sei das noch nicht genug der Entstellung und der Niveaulosigkeit, haben viele dieser seltsamen Spezialisten, wie Ducornet berichtet, ein „Faible für Privatgeschichten“ und thematisieren vorzugsweise, ganz im Stil der Boulevardpresse, das Ehe- und Sexualleben der Surrealisten, ihre Zerwürfnisse untereinander, ihre materiellen Verhältnisse und dergleichen Attraktionen mehr.

Franklin Rosemont zog 1970 die Bilanz: „Fünfundvierzig Jahre nach dem ersten Manifest des Surrealismus werden die Prinzipien und die revolutionären Ziele des Surrealismus nach wie vor ignoriert… Man bräuchte mehr als 1.000 Seiten, um wenigstens in geraffter Form die Entstellungen, Verfälschungen und Vernebelungen des Surrealismus sowie die Spötteleien und Lügen, deren Gegenstand er seit 1924 ist, zu dokumentieren.“ Und 1978 fügte er hinzu:

„...die ‚Experten’ konnten völlig ungestraft erzählen, was immer sie wollten“ – begünstigt dadurch, daß es lange Zeit nur wenige Übersetzungen surrealistischer Werke ins Englische gab, Übersetzungen, die zudem oft, obwohl manche von ihnen von den genannten „Experten” stammen, überaus schlecht sind.

Tatsächlich stehen die erwähnten Gelehrten, obwohl sie den Surrealismus zu ihrem Spezialgebiet erkoren haben – um sich wie Parasiten seiner zu bedienen oder ihn als Milchkuh zu benutzen – , ihrem Gegenstand mehr oder weniger feindselig, zuweilen sogar voller Haß gegenüber, wobei übrigens André Breton unschwer als Hauptzielscheibe auszumachen ist. Ducornet bestätigt Rosemonts Feststellungen: Nicht nur wird der Gegenstand des Forschens und Lehrens nach Kräften banalisiert und nivelliert, d.h. auf den beschränkten kleinbürgerlichen Horizont des jeweiligen „Experten”, auf sein eigenes intellektuelles Mittelmaß reduziert, es wird zudem fortwährend verzerrt, entstellt, ausgelassen, gefälscht und fehlinformiert, es wimmelt von mit Absicht oder aus purer Ignoranz verbreiteten Ungenauigkeiten und Irrtümern, und man schreckt weder vor Lügen noch vor Verleumdungen zurück: Manche scheuen sich nicht, den Surrealismus in die Nähe von Stalinismus und Faschismus zu rücken, obgleich bereits rudimentäre Kenntnisse genügen, um zu wissen, daß die Surrealisten diese totalitären Entartungen, deren Opfer viele von ihnen waren, leidenschaftlich bekämpft haben. So mutieren die Surrealistologen nicht selten zu „Surrealistophagen“. Ducornet verschweigt nicht, daß es neben diesen „graduierten Eseln“, wie er sie nennt, in den USA auch einige seriöse Surrealismus-Vermittler gibt.

B. Straub-Molitor nach Max Ernsts "Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen"
B. Straub-Molitor nach Max Ernsts
"Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind
vor drei Zeugen"

Wieso das alles? Offenbar grassiert die Zensur, nicht eine von außen aufgezwungene, sondern die in den Hirnen wirkende anerzogene Zensur: die Schere im Kopf. Der Surrealismus, meint Ducornet, sei wohl inkompatibel mit dem Puritanismus Nordamerikas (Kanada übrigens eingeschlossen). Inkompatibel bis hin zur aggressiven Abwehr seitens ihrer Kommentatoren ist diese entschieden atheistische Bewegung sicher auch mit der in den USA grassierenden, zum Teil höchst bigotten, oft zum christlichen Fundamentalismus neigenden Religiosität. Inkompatibel ist sie als revolutionäre Bewegung mit der traditionellen Verteufelung all dessen in den USA, was auf grundlegende gesellschaftliche Veränderungen zielt.

In den 60er Jahren, so berichtet Ducornet, als es in den Vereinigten Staaten die Bürgerrechts- und die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, die Studentenrevolten, die Black-Panther-Bewegung und ähnliche Manifestationen des Aufbegehrens gegen die herrschenden Verhältnisse gab, habe sich die feindselige Haltung gegenüber dem Surrealismus wenigstens vorübergehend ein wenig geändert, wenn auch nicht grundsätzlich. Um so ablehnender wurde sie dann wieder zu Beginn der 70er Jahre, als jenseits des Atlantik der Neofeminismus um sich griff – und in Gestalt von akademischen Adepten desselben über die Surrealisten herfiel. Entstellung und Fehlinformation, Schmähung und Verteufelung erreichten nun einen Höhepunkt, wobei sich eben vor allem weibliche Lehrstuhlinhaber hervortaten. Sie warfen Breton und seinen Freunden vor, „Misogyne“, „Frauenkolonisierer“ und „Phallokraten“, kurzum: „male chauvinist pigs“ zu sein, die die Frauen ihrer Umgebung permanent unterdrückt und zu Opfern gemacht hätten. Ein gewisser Rudolph E. Kuenzli, Herausgeber einer Zeitschrift mit dem Titel Dada/Surrealism (University of Iowa) – eines Periodikums, das bizarrerweise der Bekämpfung des Surrealismus dient – , schreibt in einem „Surrealismus und Frauenhaß“ überschriebenen Artikel: „Die surrealistische Kunst und Poesie richten sich an die Männer; die Frauen sind nur Mittel und Zweck zur Schaffung dieser Werke. Die Frau wird von den [surrealistischen] Männern ausschließlich um dessentwillen beachtet, was sie für ihn tun kann. Sie ist ihre Muse, und manchmal kann sie auch Maschine schreiben.“

Solide ausgestattet mit dem, was Ducornet spöttisch eine „Psychologie aus dem Supermarkt“ nennt, „beweisen“ manche von diesen wackeren Streiterinnen, die surrealistischen Männer hätten unter fortwährender Kastrationsangst gelitten und es ihren Freundinnen, Geliebten, Ehefrauen und surrealistischen Mitstreiterinnen – deren Existenz immerhin nicht geleugnet wird – entsprechend heimgezahlt. Als besonders debil tut sich unter den Anti-Surrealismus-Amazonen eine Mrs Ronnie Sharfman hervor, die sich seinerzeit mit der neofeministischen „Interpretation“ eines Breton-Gedichts auf die Barrikaden wagte, einer Deutung, die bei Menschen, die sich auf diesem Gebiet ein wenig auskennen, nur schallendes Gelächter auslösen kann, während sie im Land der anscheinend tatsächlich unbegrenzten Möglichkeiten als ernstzunehmende literaturwissenschaftliche Leistung anerkannt wird. Indessen handelt es sich, wie Ducornet einschränkt, bei dieser bellizistischen Schar nur um eine Parodie des Feminismus: „eine konformistische gynocritique, erfunden von der weißen middle-class, wohlerzogen und puritanisch […]. Sie haben nichts mit dem zu tun, was ich von der bewundernswerten Geschichte des kämpferischen amerikanischen Feminismus im 19. Jahrhundert wußte.“ Übrigens haben die armen, unterdrückten, zu Objekten herabgewürdigten surrealistischen Frauen ihre amerikanischen Geschlechtsgenossinnen nie um Hilfe gebeten – im Gegenteil: viele von ihnen haben sich diesen „Beistand“ ausdrücklich verbeten. Sie wußten, daß „die Gleichheit der Frauen stets auf der Tagesordnung der [surrealistischen] Bewegung gestanden hat“ und daß diese Bewegung „die erste und einzige Avantgarde-Bewegung war, die bereits seit 1924 Frauen in ihre Reihen aufnahm, und zwar nicht mehr nur als traditionelle Ateliermodelle, sondern als Gefährtinnen und als Gleiche“ (Ducornet).

Man darf in diesem Zusammenhang, als einen Beleg unter vielen für die Einstellung der surrealistischen Männer der Frau gegenüber, eine bekannte Stelle aus André Bretons Buch Arcane 17 (1944) anführen, die da lautet: „Es wäre an der Zeit, die Ideenwelt der Frau auf Kosten derjenigen des Mannes in den Vordergrund zu stellen, die heute mit ziemlichem Getöse ihren Bankrott erlebt. Vor allem ist es Aufgabe des Künstlers […], so weitgehend wie irgend möglich all dem Vorrang einzuräumen, was im Gegensatz zum männlichen dem weiblichen Weltverständnis angehört, ausschließlich auf die Fähigkeiten der Frau zu bauen, alles zu verherrlichen, ja sich bis zur völligen Identifikation zu eigen zu machen, was sie hinsichtlich ihrer Art des Wertens und Wollens vom Mann unterscheidet. […] Es ist schon zu spät, meine ich, sich in dieser Hinsicht noch mit bloßen Absichtserklärungen, mit mehr oder minder verschämten Zugeständnissen zu begnügen, vielmehr ist es an der Zeit, sich in der Kunst unzweideutig gegen den Mann und für die Frau auszusprechen, den Mann einer Macht zu entheben, von der zur Genüge feststeht, daß er sie mißbraucht hat, um diese Macht wieder in die Hände der Frau zu legen, alle Ansprüche des Mannes abzuweisen, solange es der Frau noch nicht gelungen ist, von dieser Macht wieder den ihr zustehenden Anteil zu übernehmen, und dies nicht mehr nur in der Kunst, sondern im Leben selbst.“ Soviel zur Misogynie und Frauenphobie der Surrealisten.

Möglicherweise befinden sich unter den Lesern dieses Beitrags einige Studierende, die sich als solche einigermaßen ernsthaft mit dem Surrealismus beschäftigen möchten. Ihnen sei hier als kleiner Service eine Liste amerikanischer „Surrealistolog/inn/en“ an die Hand gegeben, deren einschlägige akademische Hervorbringungen man bei Gefahr, ein völlig falsches Bild des Surrealismus vermittelt zu bekommen, tunlichst meiden oder zumindest mit äußerster Vorsicht genießen sollte: Anna Balakian, Robert J. Belton, Ruth Brandon, Clifford Browder, Mary Ann Caws (partiell), Whitney Chadwick (partiell), Margaret Cohen, Georgina Colvile, Katherine Conley, Wallace Fowlie, Inez Hedges, Matthew Josephson, Felicia Kornbluh, Rudolf E. Kuenzli, Georges Lemaître, Helena Lewis, Herbert Muller, Mark Polizzotti, Gwen Raaberg, Ronnie Sharfman, Roger Shattuck, Charlotte Stokes, Susan Suleiman, Montague Summers, John Weightman.

Immerhin: in den letzten zehn Jahren soll sich laut Ducornet die Situation ein wenig gebessert haben. Offenbar ist es nun selbst in „God’s own country“ doch nicht mehr ganz so leicht möglich, „Karrenladungen von Beleidigungen und Verleumdungen“ (Ducornet) über diese „kleine Fraktion freien Denkens“, als die André Breton die surrealistische Bewegung bezeichnet hat, auszukippen. Wie das erwähnte Beispiel Clair zeigt, stehen indes genügend andere Schmäher bereit, um in die Bresche zu springen...

Heribert Becker


Nachstehend stellen wir ein Kapitel aus Guy Ducornets kleinem Buch vor, eines, in dem von der eklatanten Fehldarstellung des surrealistischen Atheismus seitens der „Parasiten des Surrealismus“ die Rede ist. Wie falsch diese Darstellung ist, zeigt der sich anschließende Text „Pollutionsgefahr“ (1931) des angeblich tief, wenn auch unbewußt vom Katholizismus durchdrungenen Surrealisten Max Ernst.



In god we trust

Guy Ducornet
Die Parasiten des Surrealismus

Kapitel VIII
Und was macht Gott in all dem?


Da sie uns nicht mittels Assimilierung auf eine religiöse Sekte, eine politische Partei oder eine literarische Clique zu reduzieren vermochten, können diejenigen, denen wir Kopfzerbrechen bereiten, nur noch darauf hoffen, den Surrealismus in der Konfusion zu ersäufen, von welcher sie profitieren und auf die sie so stolz sind.

Tranchons-en. Kollektiverklärung der
surrealistischen Bewegung, 1965



Die christliche Religion, die entwickeltste und scheinheiligste aller Religionen, ist das große geistige und materielle Hindernis für die Befreiung des westlichen Menschen, denn sie ist die unentbehrliche Gehilfin aller Unterdrückungssysteme. Ihre Vernichtung ist eine Frage von Leben und Tod.

Benjamin Péret, 1948



Colette Thomas’ Le Testament de la fille morte, dieses wenig bekannte, vehement anti-christliche Buch, in dem Verwünschungen zu hören sind, die Péret und Buñuel Freude gemacht hätten, ist von Dr. Gloria Orenstein in die englischsprachige Welt eingeführt worden, einer Frau, die den Schrei dieser Autorin zu vernehmen verstand, die seinerzeit schrieb: „Die Christenheit krepiert an ihrer Niedertracht… Denn der Geist kommt nicht von außen, wie die Kirche glaubt, sondern von innen und allein kraft des Fleisches – und das Fleisch ist weder heilig noch Mutter noch Jungfrau noch sonst etwas, sondern Frau – absolut Frau.“ Seit über zwanzig Jahren geht diese passionierte Kommentatorin Leonora Carringtons der Hypothese nach, die surrealistischen Frauen hätten „in Kunst und Religion den Primat der weiblichen Gottheit wiederherstellen wollen und dabei einen weiblichen Mythos des künstlerischen Schaffens gefordert1, wobei sie im Eifer des Gefechts vergißt, daß niemand sich als Surrealist bezeichnen darf, der nicht zugleich Atheist ist – eine absolute Selbstverständlichkeit! Annie Le Brun hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, sich über diese „feministischen“ Exkurse auf das Gebiet des Göttlichen via Rückkehr zu den matriarchalischen Quellen lustig zu machen, Exkurse, die, wie sie schreibt, Teil „dieser zahllosen ethno-psycho-soziokulturellen Dilettantismen mit wissenschaftlichem Anspruch“ sind, „die uns keine Fakten beschert haben, sondern eine Anzahl von Glaubensvorstellungen, beispielsweise zur – unbewiesenen – Existenz eines historischen Matriarchats“.2

Wenn das neue feministische Bewußtsein in den Vereinigten Staaten den Status quo des patriarchalischen Puritanismus in Frage gestellt hat, so hat es doch sogleich auch eine andere Form der Rückkehr des Rohrstocks bewirkt, nämlich seitens der religiösen Fundamentalisten aller Schattierungen, von denen es in einem Land ohne Staatsreligion nur so wimmelt, das so viele Sekten zuläßt, wie Frankreich Käsesorten hat, und das sein Credo – IN GOD WE TRUST – auf seinen allmächtigen Dollar druckt.

„Gott ist ein Schwein“ (André Breton)

Die Literatur- und Kunstkommentatoren von den amerikanischen Universitäten gucken immer woandershin, wenn die Surrealisten laut und deutlich ihre radikale Ablehnung des Christentums und ihren – angemessenerweise – „primitiven“ Antiklerikalismus hinausschreien. Der Atheismus Bretons, „[im Jahre 1952] so kompromißlos wie am ersten Tag“ – (und „heute noch drastischer“, fügte Jean Schuster 1986 in einem Brandsatz aus bestem (Scheiterhaufen-)Holz3 hinzu – , interessiert niemanden, abgesehen von denen, die die Surrealisten an den Tisch des Herrn zurückholen wollten wie John Weightman:

Der Surrealismus wurde von einer starken Neigung zur Religiosität geprägt […], und ungeachtet seiner laut verkündeten Feindseligkeit gegenüber der offenbarten Religion ist [jeder Surrealist] ein Transzendentalist.“4

Aus dem Film L'Imitation du cinéma, 1959) von Marcel Mariën
Aus dem Film L'Imitation du cinéma, 1959
von Marcel Mariën

Auch der Puritaner Wayne Andrews bemühte sich, André Bretons Gottesallergie zu erklären:

Sein Atheismus war, wenn man so will, eine Überzeugung, aber auch eine Last, an der er sein Leben lang zu tragen hatte. Man wird ihn vielleicht nie erklären können, aber man vermag ihn zu verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er ein brillanter Mensch war, der jedoch mit einem Vater und einer Mutter geschlagen war, die dumm waren. Vielleicht sagte er sich, daß ein Gott, der ihm so dumme Eltern gegeben hatte, einfach nicht existieren konnte.“5

Niemand weiß, wo Dr. Andrews diese Debilitäten her hat, dennoch wurde ihnen die Ehre zuteil, in der Sonntagsbeilage der New York Times veröffentlicht zu werden. Häufig quittiert man die anti-christlichen surrealistischen Bekundungen mit einem Seufzer des Bedauerns und versucht zugleich, Verwirrung zu stiften: Wörter wie mythisch und heilig (sacré) werden unter der Hand zu Synonymen für mystisch oder religiös, obwohl Jean Schuster zu Recht feststellt: „Es war nicht das geringste Verdienst André Bretons, ‚den Religionen Wörter wie Seele oder heilig streitig gemacht zu haben’“, womit er an Bretons Rundfunkgespräche von 1952 erinnert (Entretiens, Paris [Gallimard]):

Nichts wird mich je mit der christlichen Religion versöhnen. Am Christentum lehne ich die ganze masochistische Dogmatik ab, die sich auf die aberwitzige Idee der ‚Erbsünde’ stützt, und ebenso die Vorstellung des Heils in einer ‚anderen Welt’ mitsamt den schmutzigen Absichten, die sie in dieser hier mit sich bringt.

Und er fügt hinzu:

Muß in bezug auf die christliche Zivilisation noch gesagt werden, daß die furchtbaren Vorwürfe, die wir gegen sie erheben, über eine Meinungsverschiedenheit hinsichtlich ihrer grundlegenden Prinzipien weit hinausgehen?

Unter den Hunderten von ins Internet gestellten Artikeln habe ich 1990 nur eine einzige Abhandlung zum Thema „Der Surrealismus und sein Verhältnis zum Christentum“ ausfindig gemacht: L’Imagerie judéo-chrétienne chez André Breton (Die jüdisch-christliche Bildwelt bei A.B.), eine unveröffentlichte Doktorarbeit von 1968 aus der Feder von… Schwester Immaculée Dana! Ein Text von Jonathan Culler6, einem in den USA lehrenden britischen Kritiker, hob die Toleranz der amerikanischen Universitäten gegenüber dem Marxismus hervor, der assimilierbarer sei als der militante Atheismus. Er zitierte William Empson, für den diese Atheismus-Allergie keineswegs verwunderlich ist „im Land der Neo-Christen, die nicht einzusehen vermögen, daß es für Menschen mit einem zivilisierten Bewußtsein immer besser ist, sich das Christentum vom Leibe zu halten “.7 Culler kommentiert diese Merkwürdigkeit in einem Land, in dem der Präsident seine Mitbürger dazu aufrufen kann, am Tage seines Kriegseintritts für das Vaterland zu beten, ohne landesweit ein brüllendes Gelächter auszulösen, wie folgt:

„In den Vereinigten Staaten sind der Glaube und der religiöse Diskurs Teil einer höheren Ordnung, sie sind per se respektwürdig und über Spott und Sarkasmus erhaben. Das beweist, daß das Unterrichtswesen seine historischen Aufgaben nicht mehr wahrnimmt: den Aberglauben zu bekämpfen, in der Diskussion über die Forderungen und Mythen der miteinander konkurrierenden Religionen zur Skepsis anzuhalten; den religiösen Dogmatismus und seine Folgen zu bekämpfen. […] Keine Person des öffentlichen Lebens wagt es, die Religion in Frage zu stellen, so sehr ist die Überzeugung verbreitet, daß man sie respektieren muß. […] In den Universitäten geschieht es nur selten, daß man sie ernsthaft angreift: Jeder, der sich das trauen würde, sähe sich mit der lachend gestellten Frage konfrontiert, warum er den Dorf-Atheisten spielt – als sei das eines hochkultivierten Stadtmenschen unwürdig, der zu sein sich die Professoren einbilden.“8

Wie soll man sich unter diesen Umständen wundern, daß das Anti-Muckertum der Surrealisten in den USA weniger populär ist als ihr Privatleben?I

Clovis Trouille, Klostertraum, 1952
Clovis Trouille, Klostertraum,
1952 (Detail)

Die Professorin Celia Rabinovitch legte 1987 eine ziemlich stoffreiche Studie zum Thema „Der Surrealismus und das moderne religiöse Bewußtsein“9 vor, in der sie behauptet:

„Die spirituellen Bestrebungen der Surrealisten, die in ihrem Glauben an eine übernatürliche Realität – eine Surrealität – erkennbar sind, müssen im Rahmen des modernen religiösen Bewußtseins verstanden werden. Alles an dieser Bewegung läßt auf eine verdeckte Religion schließen: ihre Sektenstruktur, ihre Verwendung von Manifesten und Glaubenskodices, ihre Herkunft aus der Undergroundkultur der Bohème, ihr Hang zum Okkulten und Heterodoxen.“

Die Surrealisten von 1930 mit den Hippies von 1960 und den jesufizierten Schwärmern oder sonstigen um ihre Gurus gescharten (oder sich vor ihnen entleibenden) hirnkranken Mitgliedern irgendeiner Sekte zu verwechseln, heißt wirklich, keine Ahnung zu haben von der Verachtung der frühen Surrealisten für die künstlerische Bohème ihrer Zeit und auch von allem übrigen nichts zu begreifen, aber Frau Dr. Rabinovitch fährt unbeirrt und selbstsicher fort:

„Selbst die Gotteslästerung und der Ikonoklasmus, deren sich die Surrealisten gegen die Hegemonie der bürgerlichen Vernunft und Moral bedient haben, weisen ironischerweise auf die Zweischneidigkeit des Tabus, das – wie sehr auch die Dinge auf den Kopf gestellt werden – seine Verwurzelung in den katholischen Tradition bestätigt. Mir geht es darum zu zeigen, daß die religiösen Ursprünge des Surrealismus ihr Licht auf die gesamte Bewegung werfen.“

So reaktiviert man ein unwiderlegbares, für apologetische Zwecke schon so häufig benutztes Argument und paart es mit einer unbewiesenen – und unbeweisbaren – Behauptung zur angeblich religiösen Herkunft des Surrealismus. 1948 brandmarkten die Surrealisten in der Flugschrift À la niche, les glapisseurs de Dieu! (Ab in eure Hütte, ihr Kläffer Gottes!) die frommen Blutegel, die sie zu vereinnahmen suchten: Dieses Pamphlet ist, da es niemals ins Englische übersetzt worden ist, leider toter Buchstabe geblieben, sonst hätte Mrs Rabinovitch dort Sätze lesen können wie diese:

„Der Betrug […] liegt in der Benutzung jedes atheistischen Protests im allgemeinen und des surrealistischen Protests im besonderen zu apologetischen Zwecken. […] Jedenfalls gehen die Kirchen von jetzt an davon aus, daß selbst Gott zu leugnen noch bedeutet, ihn zu bejahen, und, wird dieser erste Satz einmal akzeptiert, daß ihn zu bekämpfen bedeutet, an ihm festzuhalten, daß ihn zu verabscheuen heißt, nach ihm zu verlangen. […] Deshalb mögen die Exegeten trotz der Tatsache, daß die Gottesvorstellung als solche uns nur ein Gähnen der Langeweile zu entlocken vermöchte […], nicht überrascht sein, wenn sie uns noch zu den „Grobheiten’ des primitiven Antiklerikalismus greifen sehen, für den das [von Arthur Rimbaud] auf die Kultgebäude von Charleville gepinselte Scheiß auf Gott immer noch das klassische Beispiel ist. Daß die politischsten unter ihnen aus taktischen Gründen dem Bannfluch entsagen, genügt nicht, damit wir dem entsagen, was sie Gotteslästerungen nennen, Schmähungen, die in unseren Augen natürlich keinerlei Adressaten im göttlichen Bereich haben, sondern nur weiterhin unseren unwandelbaren Widerwillen gegen jedes Auf-den-Knien-Rutschen zum Ausdruck bringen.“10

Aber da Mrs Rabinovitch den Text nicht gelesen hat, hat sie sich bei Xavière GauthierII den Gedanken abgeschaut, daß „die Gotteslästerung selbst eine Form der Unterwerfung ist“, bevor sie ohne zu zögern folgert, daß „der Surrealismus die psychische Umkehrung des patriarchalischen Judenchristentums seiner Zeit“ ist. Wieso sind die Surrealisten bei so vielen unbewußten oder bewußten Umkehrungen nicht auf dem Kopf herumgelaufen? Der Kreis schließt sich, und die Ideologie, deren Windungen wir schon gefolgt sind, läßt wieder ein Stückchen ihres Weihwedels hervorschauen:

Die reaktionäre Symbolik des weiblichen Prinzips im Surrealismus weist auf einen Typ von verbotener Emotion, die in einer neuen, von Angst, Gefahr und Schuldgefühl gehemmten Freiheit frohlockt.“

Damit sind wir wieder auf vertrautem Gelände, einem, wo die Surrealisten am Ende immer als reaktionäre Machos gebrandmarkt werden.

Zum Nachtisch habe ich mir die deliziöse These der Professorin Charlotte Stokes aufgehoben, die in einer Abhandlung über Max Ernst als Visionär11 die Meßkännchenschwenkerei noch weiter treibt, einem Text, in dem sie eine neue Interpretation von Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au carmel (Traum eines kleinen Mädchens, das ins Karmeliterkloster eintreten wollte) liefert, dem Collageroman, der bis heute eines der Kleinode jenes Jahres 1930 ist, das so reich an surrealistischen Edelgewächsen war. Max Ernst parodiert darin das Leben der Heiligen Theresa vom Kinde Jesus (Thérèse de Lisieux), die 1925 unter großem Glockengetöse heiliggesprochen worden war.III Charlotte Stokes aber sieht darin „eines der katholischsten Kunstwerke der Avantgarde des 20. Jahrhunderts“. (Man stelle sich Max Ernsts Verwunderung vor, wenn ein Teufelchen ihm dereinst vermeldet, er habe seine green card fürs Paradies!) Doch lauschen wir weiter den frommen Worten:

„Sein Autor und die anderen Surrealisten waren inbrünstig anti-katholisch, und dennoch sind die Form und der Reichtum der symbolhaften Sprache dieses Traums ein Tribut an katholisches Erleben. […] Zwar verzichteten die surrealistischen Künstler für sich selbst nicht auf die Freuden des Fleisches, traten aber mit dem gleichen Sinn für Berufung in die surrealistische Gruppe ein wie diejenigen, die in einen religiösen Orden eintreten. […] Nicht zufällig nannte man Breton den Papst des Surrealismus.“IV

Das ist das Non plus ultra der akademischen Forschung an amerikanischen Universitäten, und Frau Dr. Stokes – die „Mon curé devenu fou entre deux messes“ ohne mit der Wimper zu zucken wortwörtlich ins Englische übersetztV – wundert sich vielleicht, daß man sie außerhalb ihres Campus nicht ganz für voll nimmt, vor allem, wenn sie für die Bewunderer Max Ernsts hinzufügt:

„Der Eindruck, den Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au carmel vermittelt, ist der eines Menschen, der im Banne sehr starker innerer psychischer Kräfte steht, die die lebendige und hochpoetische Form von religiösen Visionen angenommen haben.“ Sagte uns der gute Montague SummersVI nicht eingangs, „Gott [sei] die einzige Realität“?

Übers. Heribert Becker



  1. Gloria F. Orenstein: „Reclaiming the Great Mother: A Feminist Journey to Madness und Back in Search for a Goddess Heritage”. In: Symposium, University of Syracuse, N.Y., Frühjahr 1982, S. 47
  2. Annie Le Brun: Vagit’Prop. Paris (Ramsay/Pauvert) 1990, S. 264
  3. Jean Schuster: Lettre à André Liberati contre les acolytes de Dieu et les judas de l’athéisme. Paris (Actuel/Le Temps qu’il fait) 1986, S. 3
  4. John Weightman: “Surrealism and Super-Realism”. In: The Concepts of the Avant-Garde. London (Alcove Press) 1973, S. 139 f.
  5. Wayne Andrews in The New York Times Book Review, 7. Juli 1990. (Wie man sieht, erreicht das “wissenschaftliche” Niveau mancher dieser akademischen Esel kaum dasjenige eines 15jährigen Gymnasiasten [Anm.d.Übers.].)
  6. Jonathan Culler: Framing the Sign. University of Oklahoma Press, 1988, S. 77
  7. William Empson: Milton’s God. London (Chatto) 1965, S. 229
  8. Ebda
  9. Celia Rabinovitch: „Surrealism and Modern Religious Consciousness“. In: The Spiritual Image in Modern Art, (ed. Kathless Regnier).Wheaton/Mass. (The Theosophical Publishing House) 1987, S. 143
  10. José Pierre (ed.): Tracts surréalistes et déclarations collectives, Bd. II (1940-1969). Paris (Eric Losfeld) 1982, S. 40
  11. Charlotte Stokes: „Surrealist as Visionary: Max Ernst’s ‚Rêve d’une petite fille qui voulut entrer au carmel’. In: The Fantastic and the Arts (ed. Donald E. Morse). New York (Greenwood Press) 1984, S. 167. Zum Glück scheint sich das Niveau der Forschung an den amerikanischen Universitäten positiv zu verändern: Das unlängst erschienene Buch Max Ernst and Alchemy von Dr. M.E. Warlick (University of Texas Press, 2001) läßt dem großen Loplop Gerechtigkeit wiederfahren, indem es der surrealistischen Erfahrung von innen her Rechnung trägt.
  1. Ducornet zeigt in seinem Buch den krankhaften Hang vieler US-Darsteller/innen des Surrealismus auf, im Privat- und vor allem natürlich im Sexualleben der Protagonisten dieser Bewegung herumzuwühlen und daraus zum Teil hanebüchene „psychoanalytische“ Schlüsse zu ziehen (Anm.d.Übers.).
  2. Xavière Gauthier: Surréalisme et sexualité. Paris (Gallimard) 1971, dt. Surrealismus und Sexualität. Berlin 1980 (Anm.d.Übers.)
  3. Sieben Jahre später legte übrigens der den Surrealisten sehr nahestehende Arzt Pierre Mabille ein Psychogramm dieser „Heiligen“ vor, dem zufolge es sich hier schlicht um eine ebenso bedauernswerte wie unheilbare Psychopathin gehandelt hat: Thérèse de Lisieux. Paris (José Corti) 1937, Paris (Sagittaire) 1975, Paris (Denoël/Gonthier) 1978
  4. Zu dieser immer wieder benutzten diffamierenden Bezeichnung zwei Statements von zwei bekannten Dichtern, die längere Zeit der surrealistischen Bewegung angehört haben: „Nie“, schreibt Octavio Paz in seinem Essay „André Breton – Die Suche nach dem Anfang (in: O.P., Corriente alterna, México 1967), „sah ich zu ihm auf wie zu einem Meister, geschweige denn wie zu einem Papst, um den abscheulichen Ausdruck zu gebrauchen, den irgendwelche schmierigen Kerle verbreitet haben.“ – „Es gibt etwas, das ich nicht ausstehen kann“, bemerkt André Pieyre de Mandiargues (in Docsur [Paris], Nr. 20, Febr. 1992), „nämlich die auf Breton gemünzten Worte ‚Papst des Surrealismus’. Wenn ich das höre, ist zuerst einmal jedes Verhältnis zwischen mir und der Person, die das sagt, beendet, und wirklich nur weil ich körperlich nicht stark genug bin, schlage ich ihr nicht den Schädel ein, so wie Breton es zu seinen Lebzeiten getan hätte!“
  5. als „Mein zwischen zwei Messen verrückt gewordener Priester“, ohne das dahinter versteckte schlüpfrige Wortspiel, eine sog. contrepèterie, zu bemerken: „Mon curé devenu mou entre deux fesses“ (Mein zwischen zwei Arschbacken schlapp gewordener Pfaffe) (Anm.d.Übers.).
  6. Ein weiterer tumber amerikanischer Universitätsmensch, der meinte, sich über den Surrealismus verbreiten zu müssen. Schon 1938 beklagte er sich bitterlich: „Die grundlegende Schwäche der Surrealisten – was sage ich: die Fäulnis, die die gesamte Bewegung zerfrißt – ist ihr krasser Materialismus… Sie leugnen das Übernatürliche. Dabei hängt doch vom Übernatürlichen letztlich alles ab… Gott ist die einzige Realität“ (Anm.d. Übers.).



Objekt P. Schneider-Rabel, 2000
Max Ernst
Pollutionsgefahr*


M. Ernst, Seelenfrieden aus La femme 100 têtes
Max Ernst, Seelenfrieden,
Collage aus La femme 100 têtes

Vollendete natürliche Sinnenlust, nicht vollendete natürliche Sinnenlust, einfache Unzucht, schwere Unzucht, Ausschweifung, Menschenraub, Prostitution, geforderte und erfüllte eheliche Pflicht, Ehehindernis durch Impotenz, Küsse auf die nicht üblichen Körperteile, Küsse auf die ehrbaren Teile, Küsse nach Art der Tauben, ohne Hintergedanken ausgetauschte Küsse, Küsse als Ausdruck von Weltläufigkeit, das Verströmen der Samenflüssigkeit, einfache und schwere Masturbation, das genußvolle Verweilen bei sündigen Gedanken, die Keuschheit, der vorsätzliche Samenerguß an sich oder von seiner Ursache her, der unwillkürliche nächtliche Samenerguß, die Gefahr eines Samenergusses, die Sodomie, der Verkehr mit Tieren, unkeusche Berührungen, Berührungen zwischen Ehegatten, das natürliche Gefäß der Frau, das vordere Gefäß, das hintere Gefäß, die Kultgefäße, szenisch-theatralische Darbietungen, das Tanzen, zügellose Bewegungen, der Reitsport, das tropfenweise Ausscheiden, unzureichender Samen, die Genitalgeister, der Dämon, die Unkeuschheit, der Stachel des Fleisches, die Fortpflanzung der Gattung, die heilige Embryologie – und der ganze Maultiermist der Kirchenlehrer.

Der Wert der Wörter ist uns bekannt, und die Gefahr eines Samenergusses oder die Pollutionsgefahr ist eine so alte Gewohnheit für uns geworden, daß wir an ihr „als Ausdruck von Weltläufigkeit“ mit Stolz Vergnügen finden. Es gibt dank den Bemühungen der Kirchenlehrer Grenzlinien, die mit abscheulicher Präzision über die Körper der Frauen gezogen sind und sie in Schamteile und ehrbare Partien zerteilen. Diese Grenzen können infolge einer überwältigenden Leidenschaft bisweilen verschwinden, um mit ihrer ekelhaften Schärfe wieder aufzutauchen, bis der gesegnete Tag kommt, an dem ein wundervolles Massaker die Erde für immer von dem klerikalen Gelichter befreien wird.

Die Liebe ist die große Feindin der christlichen Moral.

Damit, daß die Kirche mit Hilfe des Bußsakraments oder Beichte genannten Einbruchsdelikts in das Bewußtsein und in das Unterbewußtsein der Menschen eindringt, hat sie das zuverlässigste Instrument gefunden, um an Ort und Stelle mühelos alles kaputtzumachen, was nach Liebe strebt. Skandalöserweise verfügt sie, um ihre Sabotageakte zu voller Wirkung zu bringen, über alle Mittel des Justizapparats: Verurteilungen auf Zeit, zu lebenslänglichen Strafen, zu den Qualen des schlechten Gewissens, zum ewigen Feuer, Strafaufschub, Vorbehaltsfälle, die Absolution mit ihrer barmherzigen Milde.



    *Pollution hat im Französischen zwei Bedeutungen: 1. Verschmutzung (der Unwelt), Verseuchung, 2. unwillkürlicher (nächtlicher) Samenerguß. Der Titel meint wohl beides, wobei die angesprochene Gefahr der (geistigen) Umweltverschmutzung für Ernst natürlich von der christlichen Moral ausgeht (Anm.d.Übers.).


Die Kasuisten haben mit ekelhafter Deutlichkeit die Grenzlinien gezogen, die verbotene, halb verbotene, geduldete und löbliche erotische Zonen voneinander trennen. Es gibt unzählige Fälle, und die Patres widmen sich ihnen mit Wonne. Man kann die Vielfalt auf einige Standardfälle reduzieren; zum Beispiel: das Verströmen der Samenflüssigkeit in das vordere Gefäß (Kirchenjargon!) der Frau kann eine Todsünde und eine läßliche Sünde sein; es kann aber je nach den Umständen auch sündenfrei oder löblich sein. Todsünde ist es im Falle von Unzucht, Ehebruch usw.; läßliche Sünde, wenn das vordere Gefäß dasjenige der Ehefrau des Inkriminierten ist, der Koitus aber allein aus Leidenschaft vollzogen wird; sündenfrei ist der eheliche Beischlaf, der in der Absicht vollzogen wird, Kinder zu zeugen; Todsünde ist er, wenn die Ehegatten den Koitus in dem Gefäß beginnen, „das nicht für ihn vorgesehen ist“, selbst unter dem Vorbehalt, daß er im „natürlichen Gefäß“ beendet wird. Die Ehegatten begehen eine läßliche Sünde und sind streng zu tadeln, wenn der Mann zur Steigerung seiner Lust die Frau von hinten nimmt, „wie es die Hunde tun“, oder wenn er sich unter sie legt. Wenn es jedoch absolut unmöglich ist, auf andere Weise zu koitieren, zum Beispiel während der Schwangerschaft, liegt keine Sünde vor. Das Verströmen der Samenflüssigkeit in das „hintere Gefäß“ (Klerikaljargon!) stellt immer eine Todsünde dar. Das Verströmen der nämlichen Flüssigkeit in ein von der Kirche geweihtes und für die religiösen Kulte bestimmtes Gefäß gilt als abscheuliches Verbrechen und stellt in allen Diözesen einen „Vorbehaltsfall“ dar. Der eheliche Akt zwischen Verheirateten kann löblich werden, falls er vollzogen wird, um dem Ehepartner die vor Gott gelobte Treue zu halten, mit einer religiösen Zielsetzung, um Kinder zu bekommen, die Gott treu dienen, oder als Versinnbildlichung der Vereinigung Christi mit der Kirche. (Die Kirchenlehrer hüten sich – ganz offensichtlich aus Gründen des Anstands – , genauer anzugeben, wer beim Vollzug des Familienbeischlafs Christus und wer die Kirche symbolisiert, oder uns darüber zu unterrichten, ob die Unzucht, die Sodomie, der Verkehr mit Tieren, der nächtliche oder tägliche Samenerguß usw. usw. durch ähnliche Versinnbildlichungen ebenfalls löblich werden können!)

Künstler und Fotograf unbekannt

Die Kirche hat vor der Sünde Liebe als Machtmittel ein erbärmliches Sakrament und eine erbärmliche „Tugend“ aufgebaut: die Ehe und die Keuschheit (die eheliche Pflicht und die chronisch nicht vollendete Sinnenlust!). Die Sinnenlust! Die vollendete natürliche Sinnenlust, die nicht vollendete natürliche Sinnenlust, die Unz… usw. usw. (siehe obengenannten Maultiermist der Kirchenlehrer).

Les Diaconales ou Manuel Secret du Confesseur (Die Diakonalien oder Geheimes Handbuch des Beichtvaters) von Seiner Exzellenz Bouvier, Bischof von Le Mans, sind eine dicke, großformatige Schwarte. Die Liebe wird darin nicht erwähnt, aber in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Dieses Buch handelt zunächst vom sechsten der zehn Gebote, dann von den ehelichen Pflichten, und zum Schluß folgt die heilige Embryologie.

So wie eine Frau ihre „Schamteile“ verbergen muß, muß die Kirche ihre schweinische Literatur verstecken. Sie ist in lateinischer Sprache verfaßt, und ihre Lektüre ist Priestern und Diakonen vorbehalten. Der Librairie Anticléricale gebührt das Verdienst, diesen unsäglichen theologischen Quark, der im Übermaß die ganze Plumpheit, die ganze Abscheulichkeit der christlichen Moral in sich birgt, vor fünfzig Jahren in französischer Sprache herausgebracht zu haben.

Seine Exzellenz Bouvier, Bischof von Le Mans, wurde dafür, daß er mit diesem Stallmist niedergekommen ist, von Seiner Heiligkeit Pius IX. zum römischen Grafen ernannt und als Prälat seines Vertrauens, der dem heiligen Stuhl zur Seite steht, in den persönlichen Stab des Oberhirten aufgenommen.

Ein paar Kostproben:

„...weswegen einer, wenn er seines Willens nicht allzu sicher ist, daß es ihm unmöglich sei, der Masturbation zu widerstehen, wenn er verliebt die ehrbaren Teile einer Frau anblickt, ihre Hände streichelt, seine Finger in die ihrigen schlingt oder sie sogar mit Anstand, aber ohne einleuchtenden Grund küßt, sich auf die Gefahr hin, eine Todsünde zu begehen, dieser Handlungen enthalten muß...

...wenn man sich aber damit begnügt, das Kleid einer Frau nur leicht zu berühren, scheint uns dies keine Todsünde zu sein, denn diese Handlung ist als solche nicht so geartet, daß sie uns in naher Zukunft zu geschlechtlichen Handlungen verleitet.

Berührungen zwischen Ehegatten, deren Ziel es ist, zum legitimen Fleischesakt zu gelangen, sind zweifellos zulässig, vorausgesetzt, daß sie nicht die Gefahr eines Samenergusses nach sich ziehen; sie sind nämlich wie das Zubehör zu diesem Akt. Verfolgten sie jedoch das Ziel, ein stärkeres Lustgefühl zu erwirken, würde daraus eine läßliche Sünde resultieren, obwohl sie auf den Fleischesakt abzielt. Die Sünde wäre aber eine Todsünde, wenn diese Berührungen, obwohl im Blick auf den Fleischesakt vorgenommen, der gesunden Vernunft in schwerwiegender Weise widerstrebten, wie das Ansetzen der Genitalien auf ein anderes Gefäß als das natürliche oder wenn die Ehegatten beispielsweise ihren Mund gegenseitig auf die Geschlechtsteile ansetzten, um sie nach Art der Hunde zu belecken.

Obszöne Worte zwischen Ehemann und Frau sind keine Todsünden, es sei denn, sie verursachten die schwere Gefahr eines Samenergusses; doch das geschieht sehr selten; deshalb werden sich die Beichtiger nur sehr wenig damit befassen müssen...

...Es ist nicht erlaubt, die Erfüllung der ehelichen Pflicht aus Furcht, eine zu große Zahl von Kindern zu bekommen, zu verweigern: Die Ehegatten müssen auf Gott vertrauen, der den Tieren und ihren Kleinen Nahrung gibt, wenn sie darum bitten; mit der Segnung der Fruchtbarkeit segnet er oft auch die irdischen und geistigen Güter und erlaubt so, daß unter den Kindern eines zur Welt kommt, das eine ansehnliche Mitgift ins Haus und der ganzen Familie Glück bringt...

...Aber sich schminken, nur um den Männern zu gefallen und ohne legitime Heiratsabsicht, ist eine Todsünde…

...Man fragt: Ist die Ehe rechtsgültig, wenn die zu enge Frau sich infolge eines Beischlafs mit einem anderen Mann als ihrem Ehegatten ausgeweitet hat?

Antwort: Die allgemein vertretene Ansicht ist, daß die Ehe rechtsgültig ist, weil… usw. Die Ehegatten begehen eine Todsünde, wenn sie beim Vollziehen des ehelichen Aktes ehebrecherische Begierden haben, zum Beispiel indem sie sich vorstellen, eine andere Person vor sich zu haben, und vorsätzlich Gefallen an dem Gedanken finden, der Beischlaf werde mit dieser Person vollzogen… Wenn der Mann die eheliche Pflichterfüllung mit dem Wunsch fordert oder ihr nachkommt, seine Frau möge während der Geburtswehen sterben.

Der Fleischesakt ist eine Todsünde, wenn er an einer heiligen Stätte vollzogen wird, selbst in Kriegszeiten… (sic) Man fragt: Sollte man liederliche Frauenzimmer tolerieren?

Antwort: Die Theologen vertreten dazu eine doppelte Meinung.

Die meisten erklären, die Sache sei erlaubt, um – wie sie sagen – größere Sünden zu vermeiden: die der Sodomie beispielsweise oder die des Verkehrs mit Tieren, die Masturbation und die Verführung ehrbarer Frauen. ‚Nehmt die Kurtisanen weg, und ihr stiftet allenthalben Verwirrung’, sagt der heilige Augustinus… usw.

...Möchten Sie gefahrlos erfahren, ob sich Ihr Beichtkind das Masturbieren angewöhnt hat? Hier ist die Methode, an die man sich halten sollte: Fragen Sie den Betreffenden zunächst über seine Gedanken, anstößigen Redensarten, nackten Auftritte vor anderen Personen aus. Fragen Sie ihn, ob er häufig seine Genitalien und die anderer berührt und ob er erlaubt hat, daß andere die seinigen berühren. Aber vielleicht ist er noch nicht geschlechtsreif? Dann fragen Sie ihn nicht über die Masturbation aus, denn wahrscheinlich kennt er in seinem Alter dieses Laster noch nicht, es sei denn, er kommt Ihnen sehr verdorben vor. Wenn er aber geschlechtsreif ist und von sich aus zugibt, unzüchtige Berührungen mit anderen Personen vorgenommen oder mit Kameraden, die älter sind als er, geschlafen zu haben, können Sie intuitiv sicher sein, daß es zur Masturbation gekommen und Sperma geflossen ist. Gleichwohl soll der Beichtiger umsichtig vorgehen. ‚Haben Sie’, so wird er fragen, ‚ein Prickeln in Ihrem Körper, ein Schaudern in Ihrem Fleisch verspürt? Haben Sie in Ihren verborgenen Teilen ein angenehmes Lustgefühl verspürt, nach dem alle Ihre übrigen Empfindungen sich verflüchtigt haben?’ Antwortet das Beichtkind mit ‚Ja’, ist offenkundig, daß es masturbiert hat, denn die heftigen, Lustgefühle auslösenden Bewegungen deuten klar darauf hin, daß Sperma geflossen ist; es ist nicht so wichtig, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, das Resultat ist das gleiche...

Collage B. Straub-Molitor, 1997
Collage Bernd Straub-Molitor, 1997

...Nicht sehr von Bedeutung ist das Gefäß, in das hinein einerseits Männer untereinander und andererseits Frauen untereinander den Koitus praktizieren; denn egal, ob es das vordere oder das hintere Gefäß oder ein anderer Teil des Körpers ist, der Frevel der Sodomie bleibt der gleiche usw.

...es ist eine um so schlimmere Beleidigung der Natur, wenn die Frau zur Handelnden und der Mann zum Erduldenden wird usw. … Vergessen wir vor allem nicht jene andere Sodomie, die in der fleischlichen Vereinigung zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts besteht, aber außerhalb des natürlichen Gefäßes praktiziert wird. Indem man sein männliches Glied beispielsweise in den Mund, zwischen die Brüste, die Beine oder die Schenkel usw. usw. der passiven männlichen oder weiblichen Person steckt. Man fragt: Dürfen verheiratete Frauenspersonen und Witwen in dem Gedanken an einen künftigen oder zurückliegenden Fleischesakt schwelgen?

Antwort: Es ist wahrscheinlich, daß Verlobte und verwitwete Personen eine Todsünde begehen, wenn sie in diesem fleischlichen Ergötzen schwelgen, welches die Vorausschau auf einen zukünftigen Koitus oder die Erinnerung an einen zurückliegenden in den Sinnen hervorruft.

Der Ehemann, der sich in Abwesenheit seiner Frau an der Vorstellung des Fleischesaktes ergötzt, so als vollzöge er ihn im nämlichen Augenblick, oder der daran denkt, begeht eine Todsünde, vor allem wenn die Genitalgeister dadurch in starke Erregung versetzt werden – übrigens nicht, weil er in dem fiktiven Lustgefühl einer Sache schwelgt, die ihm verboten ist, sondern nur, weil er sich der schweren Gefahr einer Ejakulation aussetzt...

...der Priester, der sich beim Verabreichen der Sakramente, beim Zelebrieren der Messe oder beim Tragen der heiligen Gewänder zum Zwecke der Meßfeier oder gar beim Herabsteigen vom Altar der Masturbation hingibt, kann für dieses doppelte Sakrikeg keine Vergebung erhalten.“

Eine Minute des Schweigens und der Andacht, wenn ich bitten darf! Ich beende hier das Zitieren aus den Diaconales, wobei ich vorsätzlich in der Vorstellung schwelge, daß der sympathische Leser oder die charmante Leserin etliche Augenblicke „genußvoll bei dem sündigen Gedanken“ an das überwältigende Bild des Priesters verweilen, der, mit dem priesterlichen Ornat bekleidet und nachdem er das unbefleckte Lamm in Händen gehalten hat, die Altarstufen herabsteigend majestätisch masturbiert. Dieses Bild könnte an Schönheit nur noch von demjenigen zweier Priester übertroffen werden, die sich, mit dem priesterlichen Ornat bekleidet und nachdem sie das unbefleckte Lamm in Händen gehalten haben, majestätisch die Altarstufen herabsteigend der wechselseitigen Masturbation hingegeben und sich, unten und am Ziel angelangt, für ihr vierfaches Sakrileg gegenseitig die Absolution erteilen.

Es ist seltsam, festzustellen, daß kein Hund je die Stimme zum Protest gegen die Beleidigungen, die seiner Rasse durch die Rasse der Priester zugefügt worden sind, und gegen den meist herabsetzenden Gebrauch des Wortes ‚Hund’ in der kirchlichen Argumentation, namentlich der Redensart nach Art der Hunde, erhoben hat. Auf diese Verunglimpfungen haben die Hunde stets mit souveräner Verachtung und der Sanktion des Schweigens reagiert. So hat man noch nie einen Hund einen Beichtstuhl betreten sehen, um dort in der Absicht, den Priester zu demütigen, das Geständnis abzulegen, er habe den Koitus nach Art der Christen vollzogen (um Kinder zu bekommen, die Gott treu dienen). Man hat auch noch keinen Hund gesehen, der sich bemüht hätte, der göttlichen Gerechtigkeit durch Tränen, Almosen, Gebete und Fastentage zu genügen, nachdem er sich an einem abgelegenen Ort mit einer befreundeten Hündin über wollüstige Dinge unterhalten und ihr etwas über den Koitus und die Wonnen erzählt hat, den Liebesakt auf verschiedenerlei Arten zu vollziehen. Noch nie hat man zwei Hunde gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts sich für ihre gemeinsam begangene Sünde nach Art der Priester gegenseitig die Absolution erteilen sehen, nachdem sie sich zusammen schandbaren Handlungen, unzüchtigen Berührungen oder lüsternen Küssen hingegeben haben. (Es ist übrigens sehr wahrscheinlich, daß in einem solchen Falle, und zwar selbst in einem heiligen Jahr, die Absolution unwirksam wäre und gegen die Hunde, die jenes zu tun wagten, der dem heiligen Stuhl vorbehaltene höhere Kirchenbann verhängt würde.) In unserer Diözese verzichtet jeder Hund, der etwas auf sich hält, rigoros auf jeden fleischlichen oder spirituellen Umgang mit Priestern oder Nonnen, nicht aus Achtung vor der heiligen Religion, sondern weil die Vernunft ihm sagt, daß nach einer solchen Besudelung keine Hündin, und sei es ein „liederliches Frauenzimmer“, noch etwas von ihm wissen will.

Die menschliche Rasse hingegen, vertrauensseliger und weniger stolz als die bellende Rasse, hat sich nicht geweigert, Beichtstühle zu betreten. Man hat mir sogar versichert, es gäbe jetzt noch Vertreter jener Rasse, die ihre Füße in diese Verschläge setzen. Dabei gibt es auf Erden kein treffenderes Bild für einen Hinterhalt als den Beichtstuhl in allen seinen Erscheinungsformen; kein Anblick ist mehr dazu angetan, einen vorsichtig zu machen, als der eines Beichtigers, der, den Vorschriften des heiligen Augustinus, des heiligen Thomas von Aquin, des heiligen Alphons von Liguori und Seiner Exzellenz Bouvier, schweinischen Bischofs von Le Mans und römischen Grafen, folgend, seinen Schandtaten nachgeht. Urteilt man nach dem physischen Aussehen und dem geistigen Elend der gegenwärtigen Menschheit, so muß man einräumen, daß die guten Beichtväter gute Arbeit geleistet haben: Die Menschen sind häßlich und furchterregend geworden, weil sie jahrhundertelang so oft einer Sache gefrönt haben, die die Mutter aller Laster ist: der Beichte. Ihre Verdauung ist in Unordnung geraten, weil sie so oft den anämischen Leib des Herrn geschluckt haben, ihr Geschlecht ist schlapp geworden, weil sie so oft die Lust abgetötet und die Art erhalten haben, ihre Leidenschaft ist erlahmt, weil sie so oft zu einer Jungfrau gebetet haben; ihr Verstand ist in der Finsternis von Andacht und Gebet versunken. Die Tugend des Stolzes, die einst die Schönheit des Menschen ausmachte, ist dem Laster der christlichen Demut gewichen, das seine Häßlichkeit ausmacht. Und die Liebe, die dem Leben einen Sinn geben soll, wird unter Aufsicht der klerikalen Polizei in Gewahrsam gehalten.

Die trübselige eheliche Pflicht, die erfunden wurde, um die Vermehrungsmaschine auf Touren zu bringen, um die Kirche mit Seelen, die sie verdummen kann, und die Vaterländer mit Individuen zu versorgen, die für die Erfordernisse des Produzierens und für den Militärdienst taugen, der trübselige eheliche Kopulationsakt, so wie ihn die Kirchenlehrer denen erlauben, die sich in Liebe vereinigen möchten, sind bloß eine Photographie, die dem Liebesakt nur ähnelt. Die Liebenden werden von der Kirche bestohlen. Die Liebe muß neu erfunden werden. Das hat Rimbaud gesagt.

Die Liebe muß wiedererstehen, aber nicht aus den vereinzelten Anstrengungen vereinzelter Menschen: Die wiedererstandene Liebe wird aus einem kollektiven Unterbewußtsein heraus geboren werden, und sie wird durch die Entdeckungen und Anstrengungen aller an die Oberfläche des kollektiven Bewußtseins emporsteigen müssen. Das aber ist unter der Herrschaft der klerikalen und kapitalistischen Polizei nicht möglich.

Die Liebe muß von allen gemacht werden und nicht nur von einem. Das hat Lautréamont gesagt – oder beinahe jedenfalls.

In Le Surréalisme au Service de la Révolution, Nr. 3, Dez. 1931
Übers. Heribert Becker


Guy Ducornet, geb. 1937, der sich als Surrealist versteht, lebte lange Zeit in den USA und beteiligte sich dort an den Aktivitäten der amerikanischen Surrealistengruppe. In Frankreich veröffentlichte er Gedichtbände, surrealistische Spiele und Essays sowie Übersetzungen der Romane seiner amerikanischen Frau Rikki Ducornet. Lebt in Paris.



Drei Silberlinge


© Die Autoren sowie Heribert Becker für die Übersetzung


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