www.heribert-becker.de
Die Aktion bei Edition Nautilus





ANNIE LE BRUN


Surrealismus
Die usurpierte Revolution

Rezension der von Werner Spies organisierten Ausstellung La Révolution surréaliste
im Pariser Centre Pompidou (6. März – 24. Juni 2002, anschließend in Düsseldorf),
erschienen in Beaux-Arts (Paris), Nr. 214, März 2002



La Révolution surréaliste

La Révolution surréaliste
 

Seit der treffliche Kunsthistoriker und Konservator Jean Clair uns darüber aufgeklärt hat, daß der Surrealismus der Ausgangspunkt, wenn nicht gar die Ursache der Attentate des 11. September in den Vereinigten Staaten ist, kommt es auf eine Überraschung mehr oder weniger nicht an. Angefangen mit der, daß man mir die Gelegenheit gibt, über eine Ausstellung zu schreiben, die ich gar nicht gesehen habe und die auch viele von denen nicht sehen werden, die zu dem Medienrummel rings um das La Révolution surréaliste betitelte Kulturereignis beitragen, das Werner Spies für die Zeit vom 6. März bis zum 24. Juni [2002, d. Red.] ins Ausstellungsprogramm des Centre Pompidou aufgenommen hat. Man hat halt die Agitatoren, die man kriegen kann. So ist meine völlige Bedenkenlosigkeit, mich zu dieser Ausstellung zu äußern, ohne sie besucht zu haben – was ich aber laut und deutlich verkünde –, für mich zunächst eine Art, auf den Bluff einer Kunstberichterstattung aufmerksam zu machen, die sich darauf beschränkt, die Pressemitteilungen und Direktiven der Museen nachzubeten, angeblich, um dem Ereignis in Realzeit auf den Fersen zu sein. Vor allem aber verschafft mir das die Gelegenheit, deutlich zu machen, wie diese Verantwortungslosigkeit der Kritik dem scheinbar objektiven Vorhaben einer Ausstellung zum Surrealismus nützt, bei der es genügt, sich ihr theoretisches Gerüst anzusehen – was ich durch Einsichtnahme in die meisten Katalogtexte immerhin getan habe -, um das raffiniert Verkürzende, wenn nicht gar Verfälschende des Unternehmens zu erkennen.
Ich darf zunächst einmal ins Gedächtnis rufen – da sich anscheinend niemand mehr daran erinnert -, daß die nicht-künstlerische Absicht des Surrealismus ihn prinzipiell veranlaßt hat, jede seiner Ausstellungen zu einer Kriegsmaschine zu machen und all jenen kräftig auf die Finger zu klopfen, die es womöglich wagten, seine Aktivität lediglich anhand einer Anzahl von Werken darzustellen. Manche entsinnen sich vielleicht noch der Schärfe, mit der Ende 1963/Anfang 1964 eine derartige Ausstellung, die in der Pariser Galerie Charpentier gezeigt wurde, von André Breton und seinen Freunden desavouiert worden ist, da sie in ihren Augen keinen anderen Sinn und Zweck hatte, als den Surrealismus auf etwas Ästhetisches zu reduzieren¹.

1 Organisator dieser Surréalisme, sources, histoire, affinitiés betitelten Ausstellung war Patrick Waldberg. Der gegen ihn verfaßte Text der Surrealisten trägt den Titel
"Face aux liquidateurs"
(Angesichts der Liquidatoren)


2 "Ich verlange die tiefe, wirkliche Okkultierung des Surrealismus", um der Vereinnahmung und Verfälschung durch das breite Publikum zu entgehen


3 Exposition InteRnatiOnale du Surréalisme, Paris, Galerie Daniel Cordier, Dezember 1959 – Februar 1960

 

Natürlich haben sich die Zeiten geändert, Breton ist tot, die Aktivitäten der surrealistischen Bewegung sind eingestellt, und niemand kann jetzt noch den Anspruch erheben, eine surrealistische Ausstellung zu realisieren mit allem, was das einst an kollektivem und individuellem Engagement voraussetzte. Und da der Lauf der Dinge unaufhörlich gegen die "Okkultierung des Surrealismus" wirkt, die Breton im Zweiten Manifest gefordert hat², weil er sich schon 1930 der Gefahr des ästhetischen (Miß-)Verständnisses von Ausdrucksformen bewußt war, die für ihn nicht von der Revolte zu trennen waren, die sie hervorgebracht hatte, war es unvermeidlich, daß sich über ein halbes Jahrhundert später die Institutionen seiner annehmen würden. Und daß sie im Rahmen ihres Konservierungs- und Informationsauftrags schließlich dazu kommen würden, auf mehr oder weniger ordentliche Weise Werke auszustellen, die unbestreitbar dazu beigetragen haben, die Geschichte des Denkens und Empfindens zu verändern. Dies war bei der Ausstellung Surrealism Desire Unbound der Fall, die kürzlich im Tate Modern in London gezeigt worden ist und die bis zum 12. Mai [2002, d. Red.] im Metropolitan Museum in New York zu sehen sein wird. Durch ihre thematische Betrachtungsweise dürfte diese Veranstaltung den Vorzug haben, daß sie ihre Zielsetzung klar definiert hat. Obwohl man ihr einige Lücken oder Ungenauigkeiten, ja sogar regelrechte Fehler ankreiden kann, vor allem in bezug auf die 60er Jahre, in denen der Beitrag des Surrealismus mit der großen Ausstellung ER0S3 von 1959 von entscheidender Bedeutung war, dürfte Desire Unbound doch eine Vorstellung von der Art und Weise vermitteln, wie eine in ihrer Konstanz und Tiefe bis dahin unbekannte Erkundung des Begehrens Teil der surrealistischen Suche geworden ist.
Leider muß man bezweifeln, daß die Ausstellung im Centre Pompidou zu einem vergleichbaren Resultat gelangt, schon aufgrund ihrer ganz anders gelagerten Ambitionen. Denn unter Bezugnahme auf die erste surrealistische Zeitschrift, mit der eines der außerordentlichsten Abenteuer unserer Zeit seinen Anfang nahm, La Revolution surréaliste betitelt, beginnt diese Ausstellung "mit den frühen 20er Jahren und endet mit dem Exil, das herausragende Akteure der Bewegung zu Beginn der 40er Jahre in die Vereinigten Staaten führte", wie es in der Pressemitteilung heißt. Und wenn Werner Spies schon in den ersten Zeilen seines Katalogtextes vorsichtig klarstellt, daß "diese Ausstellung nicht den Anspruch zu erheben vermag, den thematischen und formalen Reichtum der 'heroischen Periode' dieser Bewegung widerzuspiegeln", so deshalb, um den Schwindel glaubwürdiger zu machen, der darin besteht, daß mit dem Doppelsinn jenes Titels gespielt wird. Denn eines von beiden: entweder beschränkt man sich auf den Zeitraum 1924-1929, der so ergiebig wie stürmisch war und der der Erscheinungszeit jener ersten Zeitschrift entspricht, oder man versteht die Bezeichnung in einem weitergehenden Sinne, um, wie es hier der Fall zu sein scheint, die nicht zu leugnende Revolution des Denkens und Empfindens darzustellen, die der Surrealismus ausgelöst hat. Wie kann man dann aber deren Lebensdauer willkürlich von fünfzig auf zwanzig Jahre reduzieren, ohne damit ihrer wirklichen Tragweite Abbruch zu tun?
Wenn man meint, ich würde hier etwas unterstellen, so darf ich in diesem Zusammenhang an das fortwährende, seit 1922 zu beobachtende Bemühen der Kritiker und Kommentatoren erinnern, entweder bei jeder der wichtigen Veranstaltungen des Surrealismus dessen baldiges Ableben zu verkünden, wie Breton noch 1964 festgestellt hat, oder – was raffinierter ist – den Zeitabschnitt aus ihm herauszuschneiden, der am geeignetsten ist, um die ideologischen Interessen zu illustrieren, für die man einzutreten sucht. Letzteres ist ganz offensichtlich die Option von Werner Spies, der in puncto Herausschneiden bereits seine Bewährungsprobe abgelegt hat, als er sich einer Wand von Bretons Atelier bemächtigte, um sie wie ein künstlerisches Exponat als "Breton-Wand, eine phänomenale Ansammlung von Werken und Gegenständen" zu präsentieren und sie gleichzeitig in eine "Installation" zu verwandeln, die bei der Wiedereröffnung des Centre Beaubourg im Januar 2000 die große Zugnummer war.
Da wundert man sich kaum, daß diese Wand in der angekündigten Szenographie der Ausstellung einen zentralen Platz einzunehmen scheint, alldieweil die im Katalog versammelten Surrealismus-Experten es nicht versäumen, sich auf sie zu beziehen, um in ihr, wie Werner Hofmann, einen "Kuriositätenladen" zu sehen, der "zugleich Mega-Hieroglyphe, lkonostase und Heiligtum" ist, dabei jedoch nicht "den horizontalen Wahrnehmungskontakt" bietet, "der sich in einem Museum zwischen dem Betrachter und dem Exponat einstellt, sondern uns eine Vertikalachse aufzwingt, die ein Gefühl der Unterordnung vermittelt". Darauf wären Bretons Besucher natürlich nie gekommen, denn sie empfanden in seinem Atelier ganz einfach ein Gefühl, das demjenigen nahekommt, das Julien Gracq so gut auszudrücken gewußt hat: "Da gab es Zuflucht vor allem Mechanischen in der Welt." Aber genau das versuchen die Kommentare unserer Spezialisten in Sachen surrealistische Revolution emsig zu verbergen, und so kann man das Ausmaß des Sensibilitätsraubes ermessen, den das Ausschlachten dieser Wand darstellt. Was ein Werner Spies seinerseits bestätigt, wenn er nicht zögert, zur Stützung seiner Beweisführung in ihr den "Kulminationspunkt einer Phänomenologie des Absurden und des Abfalls" zu sehen, womit er sein eindeutiges Unverständnis für etwas verrät, das ein Teil von Bretons Leben war und auch bleibt und keineswegs, wie er uns einreden will, die "monumentale Wand, die Breton sein Leben lang zu verändern bemüht war" wie ein in künstlerischer Absicht ständig aktualisiertes work in progress.
Da kann man nicht umhin festzustellen, daß es sich um eine Entstellung handelt, die, auch wenn sie mit aller Verblümtheit des Gelehrten daherkommt, einiges mit kultureller Lumperei zu tun hat. Und das um so mehr, wenn besagte Wand als Wahrzeichen dessen aufgestellt wird, was man zu zeigen sucht, nämlich daß die surrealistische Revolution wohl nur eine ästhetische Revolution war, auch wenn jeder der Experten, was immer sein dargestellter Standpunkt sein mag, den ebenso ausdrücklichen wie umwerfenden Wink verinnerlicht zu haben scheint, der am Ende der Pressemitteilung zu finden ist: "Denn man darf nicht übersehen, daß sich die surrealistische Bewegung aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen wollte." Darauf wären wir nie gekommen!
Man könnte mir hier den "Der politikfeste Surrealismus" betitelten Katalogbeitrag entgegenhalten, wenn nicht Jean-Michel Goutier, die personifizierte Pietät des Surrealismus und wohlbekannter Patchworker der heiligen Texte, sein Verfasser wäre und wenn seine Geistesarmut hier nicht besonders willkommen wäre, um einen leichten Schleier über das zu werfen, was die erwähnte Reduktion des Surrealismus auf das ästhetische nur noch verschlimmert, ich meine die systematische Entpolitisierung, die unterm Strich das große Anliegen dieser Ausstellung zu sein scheint. Und wenn auch die wenigen Seiten, auf denen Werner Spies es in seiner Vorbemerkung unternimmt, die spezifische Eigenart der "surrealistischen Revolution" näher zu bestimmen, von anderem Holz sind als der rituelle Zitatenzusammenschnitt Jean-Michel Goutiers, kommt seine Analyse doch einer glatten Unterschlagung gleich, wenn er die dramatische politische Geschichte des Surrealismus, der damals Zielscheibe der verschiedenen revolutionären Dogmatismen war, schließlich mit der "Geschichte einer Aporie" verwechselt. Einer Aporie, für die seiner Ansicht nach Sartre das Schlußwort geliefert hat, indem er "ein dialektisches Modell dieser Situation" vorschlug: "'[ ... ] die soziale Revolution verlangt einen ästhetischen Konservatismus, wohingegen die ästhetische Revolution dem Künstler zum Trotz einen sozialen Konservatismus fordert'." Besser kann man die Sache nicht vom Tisch wischen, und zwar ein für allemal.
Ganz offensichtlich liegt Werner Spies nicht viel an der wahren Bedeutung der surrealistischen Revolution, bei der es exakt darum ging, diese Aporie zurückzuweisen und gegen ihre Unausweichlichkeit zu kämpfen. Da versteht man, daß er die unglaubliche Anstrengung Bretons und seiner Freunde nach den 40er Jahren für nichts erachtet, die Anstrengung nämlich, sich niemals einer Revolte unwürdig zu erweisen, die sich, um nicht metaphysisch zu bleiben, als im wesentlichen politisch darstellt – bis in ihre zahllosen und verschiedenartigen äußerungen hinein, ob es sich ums Malen, Lieben oder Denken handelt, deren einziges Ziel es ist, stets den Horizont zu erweitern. Da wird klar, daß die Idee dieser Aporie alle erdenklichen müßigen Kommentare zur Collage, zum automatischen Schreiben, zu den primitiven Künsten, zum Objekt, zur Sprache usw. ermöglicht, die in dieser geballten Form die nicht unerhebliche Folge haben, die subversive Kraft, die jeder surrealistischen Unternehmung zugrunde liegt, in Vergessenheit geraten zu lassen. Am besten veranschaulicht das der lächerliche, jargonhaft schwadronierende Text von Jacqueline Chénieux-Gendron, in dem uns beispielsweise bezüglich der Sprache mitgeteilt wird, daß die "Wahrheit der Ereignisse sich uns im Verlauf eines Sprechens im Gewand einer Sprechweise enthüllt". Das ist sicher sehr wichtig zu wissen damit man besser ignorieren kann, daß in der für Werner Spies und sein helles Team nicht existierenden Nachkriegsperiode die surrealistische Revolution ihren Fortgang nimmt, und dies ebensosehr mit der Wiederentdeckung der fourieristischen Utopie wie mit einem ununterbrochenen Kampf gegen den Stalinismus, der mit einer messerscharfen Anprangerung des "'sozialistischen Realismus' als Mittel zur Ausrottung des Geistes"? 4 einhergeht.

4 cf. Bretons Aufsatz "Du 'réalisme socialiste' comme moyen d'extermination morale" (1952)


5  6 Texte von Breton



7 ein von 121 Persönlichkeiten des geistigen Lebens unterzeichneter scharfer Protest gegen den Algerienkrieg Frankreichs

 

Desgleichen ist es wohl weit wichtiger, sich dem Avantgarde-Tourismus zu widmen, zu dem uns Serge Fauchereau mit seinem Beitrag "Einige Wochen im Frühjahr 1935: Die surrealistische Internationale" einlädt, als zu wissen, daß die surrealistische Revolution ein Dutzend Jahre spüter mit der Bestütigung der Analogie in "Signe ascendant" (1947)5 wie auch mit der Umkehrung jeder revolutionüren Perspektive, wie sie in "La Lampe dans l'horloge"6 vorgenommen wird, weitergeht, nicht ohne von einer anderen Internationale zu künden, die sich vom ausgestoßenen Osteuropa bis zu Malcolm de Chazals Mauritius erstreckt. Ich könnte so fortfahren und zeigen, wie die surrealistische Revolution ihren Fortgang nimmt, mit der das Thema Erotik darstellenden Ausstellung von 1959 ebenso wie mit dem Manifest der 1217, das im Jahr danach auf Initiative der Surrealisten das Recht auf Wehrdienstverweigerung im Algerienkrieg einklagt. Denn wenn es tatsächlich eine surrealistische Revolution gibt, dann besteht sie nicht in der "Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Malerei, Poesie und Literatur, die der Surrealismus herstellt", wie uns ebenfalls in der Pressemitteilung beigebracht wird, sondern in ihrer höchst erstaunlichen Kontinuität wie in der nicht minder erstaunlichen Vielzahl ihrer Betätigungsfelder. Mit dem Surrealismus hat etwas begonnen, das nicht aufgehört hat, das politische Bewußtsein auf die Höhe der lyrischen Insurrektion zu führen. Und die übereinstimmung, mit der die Exegeten dieser umformatierten surrealistischen Revolution deren Endpunkt in der Vorstellung von den "Großen Durchsichtigen" entdecken, auf die Breton 1942 am Schluß der Prolegomena zu einein dritten Manifest des Surrealismus oder nicht zu sprechen kommt, läßt keinerlei Zweifel an der erwähnten Entpolitisierung aufkommen, denn für die einen und wie für die anderen war es angeblich die Eigenschaft dieser Revolution, daß sie eben durch ihre Transparenz einer anderen Moderne – einer künstlerischen, versteht sich – die Türen geöffnet hat: der amerikanischen Moderne der Rothko, Pollock, Motherwell usw. Nicht einmal der Suche nach einem neuen Mythos, die Breton und auch andere in den Jahren des amerikanischen Exils stark beschäftigte, bleibt es erspart, von Didier Ottinger auf die Elle eines ästhetischen Kampfes und dessen glückliches Ende reduziert zu werden, das mit einer Rückkehr zu den Ursprüngen zusammenfällt.
Es ist so betrüblich wie empörend, diese gescheiten Experten dergestalt an der Ausplünderung der Gefühlswelt arbeiten zu sehen, zu der das schon von Breton erkannte "Fortbestehen des Zeichens über das Bezeichnete hinaus" führt, mehr noch: dieses Fortbestehen als die einzig mögliche Lesart einer surrealilstischen Revolution hinzustellen, die sie sorgsam aseptisiert haben, da in ihr die Zeichen ja wieder an ihrem Zeichenplatz stehen und die Themen in ihr somit definitiv eingegrenzt werden können, wobei hier das Ordnen mit angekündigten Inszenierung von Altären, Tabernakeln usw. verschmilzt. Was die dunklen Kräfte angeht, auf die der Surrealismus immer gesetzt hat, um aus ihnen, von Sades Finsternis bis hin zu dem "nicht aufzubrechenden Kern aus Nacht", von dem Breton in bezug auf die Sexualität spricht, das dunkle Herz seiner Revolution zu machen, so sieht es ganz so aus, als seien sie bewußt aus dieser Ausstellung verbannt worden, die konzipiert wurde, um artistically correct zu sein. Dennoch will ich niemanden davon abhalten, sie sich anzusehen, man könnte in ihr ja vielleicht etwas sehen, was man noch nicht gesehen hat. Aber kaufen Sie nicht den Katalog, es sei denn die Abbildungen ... Wie auch immer, hier ist eine kleine Auswahl dessen, was in ihr nicht vorkommt oder aber in einem Licht, das alles noch schlimmer macht:
Vorläufer: "In puncto Revolte darf keiner von uns Vorläufer nötig haben" André Breton).
Breton (André): Hat er nicht schon im voraus diese Art von Ausstellung kommentiert, als er in den Prolegomena bemerkte: "Je größer die Macht [eines] Menschen ist, desto mehr wird er durch die Trägheit eingeschränkt, die aus der Verehrung erwächst welche er bei den einen hervorruft, und durch die unermüdliche Aktivität der anderen, die die abgefeimtesten Mittel einsetzen, um ihn zugrunde zu richten"? Dem widerspricht sicherlich nicht die Art dumpfer Feindseligkeit gegenüber Breton, die sich durch diesen Katalog zieht, noch die Schadenfreude, ihn im Griff zu haben. Die ist leider nicht unbegründet, bedenkt man, daß man während der Ausstellung, die 1991 im gleichen Centre Pompidou über ihn veranstaltet wurde, tagelang den riesengroßen Putzlappen der französischen Fahne gegen seine Photographie klatschen sah.
Spiel: "Wenn es im Surrealismus eine Form von Aktivität gibt, deren Dauerhaftigkeit den Vorzug besessen hat, die verbissene Wut der Dummköpfe zu erregen, dann ist es die spielerische Aktivität gewesen ..." (André Breton, 1954). Vielleicht wird einem deshalb nichts von den wahren Wundern an Erfindungsgeist und Humor noch von den Augenblicken profaner Erleuchtung und geistigen Funkelns verraten, zu denen es bei Spielen wie "öffnen Sie?" (1953), "Das eine im anderen" (1954) oder "Die Analogiekarten" (1959) gekommen ist. Sie haben allerdings auch den Nachteil, daß aus ihnen keine Kunstwerke hervorgegangen sind.


8 Exposition InteRnatiOnale du Surréalisme








9 Paris (Laffont) 1972

 

Knappes Wörterbuch der Erotik: Konzentrat von hohem Gefühlsgehalt, das in Verbindung mit dem Katalog der Ausstellung ER0S8 von 1959 erschienen ist. Sein schwarzes Licht, das dem, was heute im Centre Pompidou ausgestellt wird, auf katastrophale Weise abgeht, gestattet es, in immer noch unerforschte Gebiete vorzudringen. Bedauerlich finde ich darin allerdings den nicht gerade brillanten, von Gérard Legrand verfaßten Artikel "Homosexualität".
Dichter: "[. ..] es ist seine Aufgabe, die stets gotteslästerlichen Worte und die fortwährenden Blasphemien auszusprechen" (Benjamin Péret, 1945).
Revolution: Um sich eine Vorstellung von der revolutionären Leidenschaft zu machen, die zwischen den beiden Weltkriegen die Surrealisten erfüllte und von der nichts in diese Ausstellung Eingang findet, sollte man Révolutionnaires sans révolution (Revolutionäre ohne Revolutionen)9 von André Thirion lesen, auch wenn dieser später, nachdem er Widerstandskämpfer und Gaullist geworden war, indiskutable Äußerungen über Benjamin Péret den prachtvollen Deserteur, von sich gegeben hat.





10 die Zeitschrift
Le Surréalisme au service de la révolution

 

Sade (Marquis de): Sehr diskret scheint der Platz zu sein, den man ihm in dieser revidierten surrealistischen Revolution eingeräumt hat. Dabei gibt es von 1924 bis 1968 keine einzige surrealistische Zeitschrift, die nicht Nachricht von ihm gegeben hat. Von 1930 bis '33 gibt es in Le S.A.S.D.L.R.10 sogar eine regelmäßige Rubrik, "Aktualität des Marquis de Sade", für die Maurice Heine verantwortlich ist. Es gäbe eine interessante Art, die Geschichte des Surrealismus wiederzugeben, indem man nämlich die Perioden herausstellt, in denen Sades Einfluß markanter wird, denn diese Phasen fallen mit einer Radikalisierung der poetischen und theoretischen Positionen zusammen. So könnte es sein, daß die "Erfindung" des schwarzen Humors durch Breton Sade viel verdankt. Leider ist die Ausstellung Sade/Surreal. Der Marquis de Sade und die erotische Fantasie des Surrealismus, die bis zum 3. März 2002 im Kunsthaus Zürich gezeigt wird, von einem entgegengesetzten Standpunkt aus realisiert worden. Man könnte meinen, die Veranstaltung sei von einem Computer konzipiert worden, in dem in kunterbuntem Durcheinander Werke und Gegenstände gespeichert sind, die den Stichworten Sade und Surrealismus entsprechen. Und wenn sie auch mit unbestreitbar interessanten Exponaten aufwartet, kommt dabei doch schließlich nur ein Potpourri für Neureiche heraus, das auch der Katalog mit seinen schwachen Originalbeiträgen widerspiegelt. Nichts steht, wie es scheint, dem Geist Sades wie auch dem des Surrealismus ferner als diese neuerliche Vermarktung von Pech und Schwefel, von der die Ausstellung bestimmt wird, die zum Beispiel die Beliebigkeit der Happenings eines Jean-Jacques Lebel groß herausstellt und dem Besucher die "Vollstreckung des Testaments von Marquis de Sade" durch Jean Benoit vorenthält, die in Verbindung mit der Ausstellung EROS am 2. Dezember 1959 stattfand und Denk- und Seinsweise in Frage stellte.
Primitiv: Wenn es auch schwierig war, nicht auf das Interesse der Surrealisten an den archaischen Gesellschaften einzugehen, so ist es anscheinend doch so, daß man über die politische Implikation des Blickes, mit dem sie sie betrachteten, fröhlich hinweggegangen ist. Auch ihre "Erfindung" der primitiven Künste fand fernab der Ästhetik statt. Denn wenn sie auch nicht die ersten waren, die in ihnen eine verstörende Schönheit entdeckten, so waren sie doch die einzigen, die darin die Grundlage einer ernsthaften Infragestellung der westlichen Zivilisation und ihrer Praktiken sahen. Und sie zogen daraus alle Konsequenzen, etwa in dem Flugblatt "Besucht nicht die Kolonialausstellung", dessen Skandalwirkung 1931 in einem proportionalen Verhältnis zum Mut seiner Verfasser stand.
Toyen (Prag 1902 – Paris 1980): Ihr Fehlen ist bezeichnend für das geringe Interesse, das in dieser Ausstellung einer surrealistischen Revolution entgegengebracht wird, die zwischen den beiden Weltkriegen auf einige Länder Mitteleuropas übergegriffen hat. Zwar hat Serge Fauchereau es übernommen, sich zu diesem Thema zu äußern, aber er ist dabei ein wenig schnell über den Ideenaustausch zwischen den Pariser Surrealisten und den zornigen jungen Leuten hinweggegangen, die sich in Prag um die von Karel Teige herausgegebenen Zeitschriften scharten. So ist es nicht der viel zu sehr zum "Künstlerischen" neigende Maler Sima der diese Brücke zwischen Prag und Paris geschlagen hat, sondern Toyen und Styrský die sich wie ihre Freunde Nezval und Teige aufgrund ihrer politisierten Haltung den Surrealisten annäherten. Dank ihnen hat der Surrealismus mitten in dem Unruheherd, der Prag damals war, ein besonders intensives Licht gewonnen. Egal, ob es darum ging, sich auf den Weg zum Ursprung der Formen zu begeben oder mit der Veröffentlichung der Erotická revue von 1930 bis '33 die Nacht der Liebe zu erforschen, Toyen und Styrský haben, ebenso wie später Heisler, zur surrealistischen Revolution die Radikalität beigesteuert, mit der sie ihr Verlangen, mit der bestehenden Ordnung der Welt Schluß zu machen, niemals von ihrem "unstillbaren Durst nach dem Unendlichen" trennten.




Annie Le Brun
*1942 in Rennes. Schloß sich 1963 der Pariser Surrealistengruppe an, der sie bis zu deren Selbstauflösung 1969 angehörte. Von 1972 an unter dem Label »Èditions Maintenant« neue Kollektivtätigkeit zusammen mit den Surrealisten Radovan Ivsic, Georges Goldfayn, Toyen, Gérard Legrand, Fabio de Sanctis, Georges Gronier, Adrian Dax u.a. Ist heute eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Frankreichs – und eine excellente Kennerin von Leben und Werk des Marquis de Sade.


Anmerkungen des Übersetzers

  © Annie Le Brun/Heribert Becker [für die deutsche Übersetzung]
© Erschienen in Die Aktion – ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, LITERATUR, KUNST
© [Ausgabe II/2002, 22. Jahr] bei Edition Nautilus
© Mit Genehmigung der Autoren für forum.psrabel.com


Zurück zum Seitenanfang