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Max Ernst, der heute als einer der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts gilt, wurde am 2. April 1891 in Brühl bei Köln geboren. Schon als junger Mensch zeichnete er sich durch seinen antikonformistischen Geist aus. Während seines Philosophie- und Psychologiestudiums in Bonn (ab 1909) verkehrte er in einem Kreis junger rheinischer Künstler und Dichter um August Macke, las Nietzsche und – als erster Künstler überhaupt – Freud, der einen deutlichen Einfluß auf sein Frühwerk ausübte, und begeisterte sich für die deutsche Romantik, in der zu einem guten Teil seine künstlerischen Wurzeln liegen. Geistesverwandte sah er u.a. in Novalis und in Caspar David Friedrich, dessen Forderung an den Künstler auch als eine Art Programm Ernst'scher Kunst gelesen werden kann: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst sehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf Andere, von außen nach innen.”

1912 entschloß sich Ernst als Autodidakt, Maler zu werden. Er experimentierte zunächst mit verschiedenen, damals aktuellen künstlerischen Stilrichtungen, ohne vorerst einen eigenen Weg zu finden. Den größten Teil der Jahre des Ersten Weltkriegs verbrachte er an der Westfront. Angeekelt von der „großen Schweinerei dieses blödsinnigen Krieges” (Ernst), gründete er 1918 in Köln eine Dada-Gruppe, publizierte Zeitschriften und organisierte Ausstellungen. Für ihn waren dies „Angriffe auf die Grundlagen der Zivilisation, die diesen Krieg herbeigeführt hatte. Unser Eifer erstrebte den totalen Umsturz.” Seine dadaistischen Arbeiten, aus allen erdenklichen Materialien gefertigte ironische, sarkastische, „antikulinarische” und provokative Werke gegen die damals vorherrschende Ästhetik, selbst die der Avantgarden, „sollten nicht gefallen”, wie er schrieb, „sondern aufheulen machen”. 1920 nahm „Dadamax”, wie er sich nannte, Kontakt zu französischen und anderen Dadaisten auf und siedelte 1922 nach Paris über.

Drei Jahre lang mußte er sich dort als Gelegenheitsarbeiter durchschlagen. Beeinflußt von den magischen Bildern Giorgio de Chiricos, entwickelte sich Ernsts Werk, angefangen mit der neuen Art von Collagen, die er 1919 erfand, dann auch mit seiner anfangs dem Collageprinzip folgenden Malerei (Der Elefant Celebes und Oedipus Rex [beide noch in Köln entstanden] sowie Die heilige Cäcilie, Ubu Imperator, Pietà oder Die Revolution bei Nacht [alle 1923], Zwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht [1924] und andere), in Richtung auf eine imaginative, aus der Bilderwelt des Unbewußten schöpfende Kunst, wie sie wenig später der Surrealismus postulierte. 1924 gehörte er in Paris zu den Gründungsmitgliedern dieser Bewegung, die sich eine allumfassende, sowohl Weltanschauung und Werteordnung als auch Moral und Kunst einschließende Revolution auf die Fahnen schrieb. An den vielfältigen Unternehmungen – Zeitschriften, Flugblätter, Ausstellungen usw. – dieses kämpferischen Kollektivs beteiligte sich Ernst in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in sehr aktiver Weise.

1925 entdeckte er die Techniken der Frottage und der Grattage (jeweils Durchreibeverfahren), für ihn neue Wege, tiefer in die verborgenen Bereiche des Wirklichen – in die Surrealität – vorzudringen und sie sichtbar zu machen. Die folgenden Jahre zeitigten eine Vielzahl herausragender Werke, unter ihnen die sog. Horden-Bilder von 1927, Vorahnungen finsterer Zeitläufte, wie sie der Welt bevorstanden. 1926 malte Ernst, Sohn strenger Katholiken, aber längst Atheist, das polemische Bild Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor Zeugen: A. B., P. E. und dem Maler, mit dem er die christliche Religion verspottete, die er auch später in Wort und Bild immer wieder aufs Korn nahm. Etwa um diese Zeit trat das Thema „Wald”, neben dem Thema „Vogel” eines der bevorzugten Sujets in Ernsts gesamtem Werk, in den Vordergrund. Während der Vogel, oft unter dem Namen Loplop auftretend, meistens eine Art Alter Ego des Malers verkörpert, erscheinen die Wälder auf Ernsts Bildern teils als dunkle, bedrohliche Macht, die das Heraufkommen zerstörerischer Kräfte anzukündigen scheint, teils als Versinnbildlichung ursprünglicher, ungezähmter Natur als Gegenpol zur Künstlichkeit und Dekadenz des domestizierten und dennoch – oder eben deswegen – so destruktiven Zivilisationsmenschen.

Ende der 20er Jahre wandte sich Ernst erneut der Collage zu, und er entwickelte, als Rohmaterial alte Holzstiche und Illustrationen aus Zeitschriften des 19. Jahrhunderts mit ihrer Vielzahl kitschiger, melodramatischer Szenen benutzend, ganze Bildserien, die er zu Collageromanen zusammenfaßte: La Femme 100 têtes (1929), Rêve d'une petite fille qui voulut entrer au Carmel (1930) und Une semaine de bonté (1933, veröffentlicht 1934). Wie die erwähnten „Horden” und die finsteren Wälder reflektiert auch dieses letztgenannte Werk den Zustand einer Zivilisation, die sich in jenen Jahren mehr und mehr als Barbarei entpuppte. (Freilich – das gilt für Ernsts gesamtes Schaffen – würde man zu kurz greifen, wenn man seine Bilder auf die eine oder andere Bedeutung reduzieren wollte. Diese sind, wie alle authentischen Hervorbringungen des Unbewußten, rätselhafte, mit der Vernunft letztlich nicht zu ergründende Gebilde.)

Gerade in den 30er Jahren schuf Ernst, in dieser Zeit außerordentlich produktiv, eine Vielzahl äußerst komplexer, vieldeutiger Werke. 1933 malte er eine erste Fassung von Europa nach dem Regen, das in Form einer Landkarte einen amorphen, aus den Fugen geratenen Kontinent darstellt – und das später, in der Nachkriegszeit, der Informel-Malerei als Vorbild diente.

Um die gleiche Zeit entstand eine neue, großformatige Art von Collagen (Loplop-Serie) in Mischtechnik. Ab 1934, besonders aber im Jahre 1935 malte Ernst die Serie der Flugzeugfallen-Gärten. 1934/35 betätigte er sich erstmals ernsthaft als Bildhauer. Darauf folgte 1935, aber schon 1933 begonnen, eine Serie von Gemälden, die jeweils den Titel Die ganze Stadt tragen. Es sind Bilder, auf denen rätselhafte, zuweilen an Festungen oder fremdartige Tempelanlagen erinnernde Städte zu sehen sind, vor denen eine üppige, dschungelartige Vegetation wuchert und über denen oft eine in Form eines Ringes gemalte Sonne schwebt. Von 1936 an entstanden faszinierende Landschaftsbilder, auf denen, in altmeisterlicher Öltechnik gemalt, die wuchernde Pflanzenwelt der Städte-Serie, nun von tierischen und menschlichen Gestalten oder allerlei Monstren bevölkert, die ganze Bildfläche ausfüllt: Die Nymphe Echo (1936, 1937; insgesamt drei Fassungen), Die Natur im Morgenlicht (1936, 1938), Die Lust am Leben (1936), Abendlied (1938) und andere. Drückt sich in diesen Werken eine Art Aufstand des Lebens- gegen den Todestrieb aus, der die Menschheit damals erfaßt zu haben scheint?

1937 griff Ernst die von seinem surrealistischen Malerkollegen Óscar Domínguez entdeckte Technik der Decalcomanie auf, ein Abklatschen von Farbe, das faszinierende, an vielerlei Naturformen erinnernde Farbstrukturen hervorbringt. Ernst perfektionierte dieses Verfahren, das seine Bildsprache in großartiger Weise erweiterte, und benutzte es in den folgenden Jahren – bis in die Kriegszeit hinein – immer wieder als Grundlage zu einer Serie höchst eindrucksvoller, von Magie erfüllter Gemälde, die zu seinen virtuosesten Werken zählen, wobei die Virtuosität freilich nie zum Selbstzweck absinkt. In unvergleichlicher Weise gelang es Ernst mit diesen „interpretierten” Decalcomanien, die Atmosphäre von Fäulnis und Verfall zu evozieren, die damals über Europa lag. Ernst kehrte auch nach dem Krieg immer wieder zu dieser Technik zurück, wobei er sie jedoch oft nur als Element unter anderen einsetzte. Als recht direkte Metaphern des Faschismus, speziell des im Spanischen Bürgerkrieg wütenden Francofaschismus, lassen sich die tobenden, alles sich ihnen in den Weg Stellende niederwalzenden Ungeheuer verstehen, die Ernst in der Gemäldeserie Der Hausengel (1937) über menschenleere Landschaften rasen läßt Man darf hier von politischer Kunst im besten Sinne des Wortes sprechen, d.h. von einer Malerei, die, ans Visionäre grenzend, alle Gelegenheits- oder „engagierte” Kunst weit hinter sich läßt. Das gilt auch für die Decalcomanie-Bilder. Im gleichen Jahr 1937 veranstalteten die Nazis in Deutschland die Wanderausstellung „Entartete Kunst”, in der auch Ernst vertreten war.

Ebenfalls 1937 lernte der 46-jährige anläßlich einer der vielen Einzelausstellungen, die in den 20er und 30er Jahren seinem Werk gewidmet wurden, in London die junge Engländerin Leonora Carrington, eine angehende Malerin, kennen und nahm sie mit nach Paris. Im Jahr darauf zog er mit der neuen Gefährtin – die unter den vielen Frauen, die Ernst geliebt hat, vermutlich die Liebe seines Lebens war – nach Saint-Martin d'Ardèche im Süden Frankreichs. Er malte dort u.a. Ein wenig Ruhe (1939), ein Bild, das aus fast ungegenständlichen Farbtexturen besteht, die auf ähnliche Werke der 50er und 60er Jahre vorausweisen. Unmittelbar danach brach der Zweite Weltkrieg aus, und die Wege der beiden Liebenden trennten sich: Ernst, der nun in Frankreich als „feindlicher Ausländer” galt, wurde mehrfach eingekerkert oder in Internierungslager gesperrt. Zwischenzeitlich schuf er in Saint-Martin weitere kombinierte Decalcomanie-Ölbilder (etwa Die Einkleidung der Braut/der Ehefrau, Die fasziniernde Zypresse, Alleinstehender Baum und vermählte Bäume [alle 1940]) und begann, in der gleichen Mischtechnik, das Gemälde Europa nach dem Regen. Auf seiner abenteuerlichen Flucht vor Vichysten und Nazis traf er zwischenzeitlich in Marseille andere Surrealisten wieder, die wie er selbst auf die Möglichkeit einer Flucht nach Übersee hofften, und schlug sich schließlich über Spanien nach Lissabon durch.

Von dort aus konnte er im Juli 1941 in Begleitung der amerikanischen Millionärin und Kunstsammlerin Peggy Guggenheim ins Exil nach New York fliegen. Er heiratete die wohlhabende Dame und lebte für eine Weile in materiell gesicherten Verhältnissen. In New York und Umgebung sah Ernst erneut eine Reihe anderer Surrealisten wieder, die sich wie er ins amerikanische Exil gerettet hatten, unter ihnen André Breton, Yves Tanguy, André Masson, Roberto Matta, Luis Buñuel und Marcel Duchamp. Breton sorgte dafür, daß wieder so etwas wie eine surrealistische Gruppenaktivität mit einer Zeitschrift und diversen Ausstellungen in Gang kam. In den USA wuchs Ernsts ohnehin starkes Interesse an „primitiver” Kunst, vor allem nach einem Besuch bei den Pueblo-Indianern in New Mexico, und er legte sich eine beachtliche Sammlung einschlägiger Objekte zu, die in den nächsten Jahren seine eigene künstlerische Arbeit beeinflußten.

Zu Beginn der New Yorker Zeit malte Ernst eine Reihe weiterer herausragender Bilder, in denen er die Decalcomanietechnik mit virtuoser Ölmalerei kombinierte, u.a. Napoleon in der Wildnis, Totem und Tabu, Der gestohlene Spiegel, Das harmonische Frühstück (in Santa Monica) (alle 1941), Der Gegenpapst, Tag und Nacht (beide 1941/42), und beendete 1942 Europa nach dem Regen, eine der Vernichtungsorgie des Krieges angemessene Endzeitvision. Die meisten dieser Werke zeigen grandiose, aber unendlich öde, wie von einem Kataklysmus verheerte Landschaften, so wie sie vor der Entstehung des Menschen verbreitet gewesen sein mögen – und nach seinem Verschwinden wieder die Erde bedecken werden. Wie ein Naturheiligtum hingegen wirkt, auch aus dieser Serie, Das Auge der Stille von 1943/44. 1942 erfand Ernst die Technik des Dripping, bei dem Farbe mittels eines durchlöcherten Behälters direkt auf die horizontal plazierte Leinwand gebracht wird. Es entstanden ganz neuartige Bilder wie Der verwirrte Planet (1942) und Junger Mann, neugierig gemacht durch den Flug einer nicht-euklidischen Fliege (1942/1947), ferner, nur partiell im Drippingverfahren, das große Gemälde Der Surrealismus und die Malerei (1942).

Die in New York anwesenden surrealistischen Maler übten einen beträchtlichen Einfluß auf eine Anzahl junger amerikanischer Künstler aus, die später die „New Yorker Schule” bildeten. Auch Ernst wirkte sehr befruchtend, nicht zuletzt mit dem Drippingverfahren. 1943 schuf er mit dem 152 x 203 cm großen, aus 51 größeren und kleineren Einzelbildern zusammengesetzten und in den verschiedenen von ihm benutzten Techniken gemalten Gemälde Vox Angelica eine Art Summe dessen, was ihn bis dahin als Maler bewegt hatte. Viele Experten sehen in diesem Werk einen Wendepunkt im Schaffen des Künstlers, von welchem aus eine andere, hellere, auch einfachere Bildsprache sich durchsetzte. Die Ehe mit Peggy Guggenheim ging bald in die Brüche, nachdem Ernst Ende 1942 die amerikanische Malerin Dorothea Tanning kennengelernt hatte, die er 1946 in vierter Ehe heiratete, womit er zugleich in die vertraute Armut zurückkehrte. (Die noch lebende Witwe des Malers hat 1986 unter dem Titel Birthday (deutsch 1990) Memoiren veröffentlicht, in denen sie sehr informativ von den dreieinhalb Jahrzehnten ihres Zusammenlebens mit dem Malergenie erzählt. Lebenserinnerungen, die ebenfalls hauptsächlich Max Ernst zum Gegenstand haben, liegen auch von dessen 1920 in Köln geborenem, inzwischen verstorbenem Sohn Jimmy vor: A Not-So-Still Life [1984, deutsch 1985] ]).

Im Sommer 1944 gestaltete der Maler auf Long Island neue bildhauerische Arbeiten (Der König spielt mit der Königin, Mondsüchtig u.a.), deren heitere Verspieltheit den Wandel in seinem Werk bestätigt. Die lange Periode der rätselhaft-dunklen, vom Grauen der Zeit geprägten Bildkompositionen ging nun zu Ende. Zu den letzten großen Arbeiten dieser Werkphase gehören Die rheinische Nacht (1944) und Die Versuchung des heiligen Antonius (1945), ein von allerlei phantastischem Getier im Stile Boschs bevölkertes Bild. Anschließend an die plastischen Arbeiten von 1944 entstand eine Reihe von Bildern mit geometrischen Formen in meist hellen Farben, u.a. Der Cocktailtrinker (1945), Die chemische Hochzeit, Der Festschmaus der Götter (beide 1948) und Frühling in Paris (1950). Die verschiedenen „Stile”, in denen sich Ernst in den folgenden Jahrzehnten ausdrückte, folgen nicht immer einer chronologischen Ordnung, sondern erscheinen mitunter synchron; Techniken werden miteinander kombiniert. 1946 zog es den Maler fort aus New York, und er ließ sich mit Dorothea Tanning in der Wildnis Arizonas nieder, umgeben von Cowboys und Indianern, baute sich mit eigenen Händen ein Haus und lebte spartanisch. Erneut wandte er sich der bildhauerischen Arbeit zu. So fertigte er 1948 die große Skulptur Capricorn, sein bildhauerisches Hauptwerk. Das monumentale Figurenensemble verrät, daß die Kenntnisse „primitiver” Plastik, die Ernst sich erworben hatte, in diese Arbeit eingeflossen sind. Im November jenes Jahres wurde er amerikanischer Staatsbürger.

1949-50 hielten sich Ernst und seine Frau in Paris auf. Zu der dort wieder existierenden Surrealistengruppe, die um diese Zeit ein Schattendasein führte, hielt der Maler nur losen Kontakt. Man widmete dem Maler in Paris einige Ausstellungen, doch des trotz eines beträchtlichen Besucherzuspruchs wurden nur wenige Arbeiten verkauft, so daß es Ernst materiell weiterhin nicht sonderlich gut ging. Er kehrte noch einmal in die grandiose Einöde Arizonas zurück, von wo aus er im Sommer 1952 nach Hawaii reiste, um an der Universität Honolulu dreißig Vorträge über moderne Kunst zu halten. Im Jahr darauf jedoch zog es ihn wieder nach Europa, und er beschloß, sich endgültig in Frankreich niederzulassen, zunächst in Paris. Dort hatte er bereits 1950 mit einer neuen Art des malerischen Ausdrucks begonnen, indem er stark abstrahierte Landschaften in leuchtenden, teilweise zur Monochromie tendierenden Farben malte (Vergeistigter Hügel, Zwei Himmelsrichtungen [beide 1950], Vater Rhein [1953], Das 20. Jahrhundert [1955], Die Frösche singen nicht rot [1956], Sommernachtstraum [1960], Die Erde ist eine Frau [1963] u.a.). Daneben fertigte er ganz gegenständliche Bilder wie Der Garten Frankreichs (1962), eine anthropomorphe Landschaft. In der Tat wirkte nun alles leichter, gelöster, farbenfroher und zuweilen auch spielerischer. Farben und Strukturen waren jetzt nicht mehr nur Mittel, sondern Inhalt der Darstellung. Die Bildsprache hatte sich deutlich vereinfacht. Die ungeheuere poetische Dichte und magisch-visionäre Kraft, die zahllose Werke Ernsts aus der Vorkriegs- und Kriegszeit auszeichnen, findet man in den Bildern der letzten zweieinhalb Lebensjahre nicht mehr oft.

Dafür kam, sozusagen über Nacht, der kommerzielle Erfolg, der bis dahin, trotz des hohen Rangs, der dem Maler seit langem zuerkannt wurde, so hartnäckig ausgeblieben war: Max Ernst war 63 Jahre alt, als ihm auf der XXVII. Biennale von Venedig im Juni 1954 der Große Preis für Malerei zugesprochen wurde. Während die Pariser Surrealisten ihn wegen dieses Verstoßes gegen den Antikonformismus aus ihren Reihen ausschlossen, stieg der Marktwert seiner Werke nun beträchtlich an, und Ernst war endlich ein materiell sorgenfreies Leben vergönnt. 1955 zog er sich mit seiner Frau aus Paris in das Dorf Huismes in der Touraine zurück. Es entstanden, schon seit 1953, fast ungegenständliche Gemälde, deren Bildflächen weitgehend monochrome Strukturen oder Texturen aufweisen (Der Schrei der Möwe [1953], Ein Lügengewebe [1959], Explosion in einer Kathedrale, Ein Bienenschwarm in einem Justizpalast [beide 1960], Drei wandernde Vulkane [1964], Der unterseeische Fels [1966], Mit Wasser gewaschene Luft [1969] und viele andere). Ernst griff in allen diesen Werken, bei aller Neuartigkeit ihrer Faktur, immer wieder auf Techniken und Ausdrucksformen der 20er und 30er Jahre zurück. Ein weiteres Mal betätigte er sich, seit 1958 französischer Staatsbürger, als Bildhauer (Der Genius der Bastille [1960], Unter den Brücken von Paris [1961] u.a.).

Als zu Beginn der 60er Jahre sein gesundheitliches Befinden zu wünschen übrig ließ, zog er, begleitet von seiner Frau, die inzwischen ebenfalls eine international bekannte Malerin war, 1964 in das provenzalische Dorf Seillans. Im gleichen Jahr erschien das Buch Maximiliana ou L'Exercice illégal de l'astronomie, das auf Ernsts leidenschaftliches Interesse an dem deutschen Astronomen E. W. L. Tempel (1821-89) zurückgeht. Verstärkt wandte er sich nun der Graphik zu. In den letzten Lebensjahren schuf er eine Vielzahl von Lithographien, Radierungen und Aquatinten für Buchpublikationen. (Insgesamt hat Ernst im Laufe seines Lebens als Autor, Koautor, Illustrator usw. über hundert Bücher veröffentlicht.) 1965 kehrte er in einer Serie großer, spielerisch-leichter Bilder noch einmal zur Collage zurück, indem er auf farbige Bildgründe einfache Dinge wie Käfiggitter klebte. Daneben entstanden Assemblagen, für die er alle erdenklichen Materialien, von Blumentapeten über falsche Haare und Spitzendeckchen bis zu Vogelfedern und Thermometern, verwendete (Pataphysischer Wald [1970] u.a.). Ein letztes Mal versuchte er sich in Seillans auch als Plastiker, etwa mit dem dreiteiligen Figurenensemble Lehrkörper für eine Mörderschule (1967).

1970 erschien in Paris der Band Ecritures, der alle Texte enthält, die Ernst je publiziert hat: Autobiographisches, Kunsttheoretisches, Polemisch-Satirisches, Interviews – und nicht zuletzt eine Reihe poetischer Texte, die zeigen, daß der große Maler auch ein bemerkenswerter Lyriker war. (Man wundert sich, daß es nie zu einer vollständigen deutschen Ausgabe dieses schönen Sammelbandes gekommen ist.) Zu erwähnen ist schließlich die Serie farbiger Collagen, die Ernst 1971 auf der Basis alter Buchillustrationen schuf und die, anders als frühere Collagen, gänzlich menschenleer sind.

1975 erlitt Ernst einen Schlaganfall, der ihn bewegungsunfähig machte. Ein Jahr später, im Frühjahr 1976, fand in Paris eine große Max-Ernst-Ausstellung statt, eine von unzähligen, die zu seinen Lebzeiten diesseits und jenseits des Atlantiks veranstaltet wurden und weiterhin veranstaltet werden. Er selbst konnte die Schau jedoch nicht mehr sehen. Während draußen riesige Plakate auf diese Veranstaltung hinwiesen, starb Max Ernst in der Nacht zu seinem 85. Geburtstag am 1. April 1976 in seiner Pariser Wohnung.

Das tief in die verborgenen Bereiche des Menschen und der Wirklichkeit vorstoßende Werk, das er hinterlassen hat, ist von so ernormer Fülle und einer so großen Vielfalt der Techniken und Ausdrucksweisen, ist so geprägt von Brüchen und Widersprüchen, daß man meinen könnte, es sei das Produkt mehrerer unterschiedlicher Künstler. Der Grund dafür ist, daß Ernst sich und seine Arbeit immer wieder in Frage gestellt und die Malerei als nie endende Suche, als geistiges Abenteuer verstanden hat. Er selbst formulierte das, in der dritten Person von sich sprechend, 1967 in einem schönen Paradox so: „Ein Maler mag wissen, was er nicht will. Doch wehe! wenn er wissen will, was er will! Ein Maler ist verloren, wenn er sich findet. Daß es ihm geglückt ist, sich nicht zu finden, betrachtet Max Ernst als sein einziges Verdienst'.”



© Heribert Becker, 2006


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