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Zum Tode Woldemar Winklers

am 30. September 2004



"Halt' die Augen geschlossen, wenn du mehr sehen willst." Das ist der im ersten Moment paradox klingende Titel eines Werkes von Woldemar Winkler. Aber es ist zugleich auch eines seiner künstlerischen Prinzipien: Richte den Blick nach innen, wenn du das Wirkliche umfassender und tiefer erfahren und darstellen willst. Das verbindet Winkler mit romantischen Malern wie Caspar David Friedrich, der einst forderte: "Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht."

Es verbindet Winkler auch mit den Surrealisten, die in mancherlei Hinsicht die Nachfahren der Romantiker sind und die betonten, daß es ihnen darum gehe, "unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen auf einem Weg, der nichts anderes ist als ein schwindelerregender Abstieg in uns selbst". Man darf Winkler durchaus als Erben der Romantik und als Geistesverwandten der Surrealisten bezeichnen. Am 17. Juni 1902 in Mügeln bei Dresden geboren, feierte er vor zweieinhalb Jahren seinen hundertsten Geburtstag. Das ist ungewöhnlich genug, aber noch ungewöhnlicher ist, daß dieser Maler, Zeichner, Collagist, Assemblage- und Objektkünstler noch mit 97, 98 Jahren seiner künstlerischen Arbeit nachgegangen ist. Da blickte er auf ein gewaltiges, in über acht Jahrzehnten entstandenes Werk zurück, das nach Ansicht von Kennern der Materie zum Bedeutendsten zählt, was die Gegenwartskunst hierzulande zu bieten hat, zumindest die imaginative Kunst, eben jene, die nach innen blickt, in die "Abgründe des menschlichen Seins", wie der Maler schreibt.

Winkler studierte von 1921 an in Dresden Malerei und leitete dort anschließend, von 1929 bis '41, eine private Akademie für Zeichnen und Malen. Zuletzt war er mit dieser Tätigkeit den Nachstellungen der Nazis ausgesetzt, die schon zuvor einige als "Kunst am Bau" realisierte Arbeiten von ihm zerstört hatten. Dann kam es zu Hausdurchsuchungen, und schließlich wurde der Maler zum Militär eingezogen. Es verschlug ihn nach Norwegen, wo er in Kriegsgefangenschaft geriet. Als er 1947 nach Dresden zurückkehrte, war die Stadt, das prachtvolle "Elbflorenz", nach den alliierten Bombenangriffen im Februar 1945 nur noch eine Trümmerwüste. Auch Winklers Atelier im Zentrum Dresdens war völlig zerstört und mit ihm – so glaubte er damals – der weitaus größte Teil dessen, was er in über zwanzig Jahren Arbeit geschaffen hatte: ein traumatischer Verlust, der dem Maler aber erst nach ein, zwei Jahren voll zu Bewußtsein kam. Dann freilich wirkte der Schock so stark, daß "ich beinahe jahrelang nichts machen konnte, des Nachts geschrien habe, obwohl ich gar keinen so schlimmen Krieg erlebt hatte wie manche andere".

Mit dem, was, wie es lange aussah, als einziges von den Vorkriegsarbeiten erhalten geblieben ist, scheint sich Winkler von den damals dominierenden künstlerischen Stilen und Strömungen abzusetzen. Am ehesten würde man diese vielfach aus Traum und Inspektion geborenen Werke, die teils verspielt, teils beklemmend oder gar apokalyptisch wirken, in die Nähe des Surrealismus rücken. Aber Winkler versicherte stets, daß er damals kaum den Namen dieser Bewegung gekannt habe. Das Interesse an den dunklen Seiten des Menschen und des Wirklichen, meinte er, habe in dieser Zeit der Katastrophen wohl in der Luft gelegen.

Obwohl man ihm 1947 in Dresden ein Lehramt an der Hochschule für Werkkunst anbot, zog er es vor – schweren Herzens, denn er hing an seiner Stadt – , der sächsischen Metropole den Rücken zu kehren, schienen ihm doch in der damaligen SBZ bereits wieder neue politische und künstlerische Unfreiheiten zu drohen. Er ging in den Westen, heiratete eine Westfälin und ließ sich 1949 im ostwestfälischen Gütersloh nieder, wo er seither lebte. Nach dem erwähnten Trauma des Verlusts seines Vorkriegswerks stellte sich erst im Laufe der 50er Jahre nach und nach die alte Kreativität ein. Dann aber trieb eine unbändige Arbeitswut den Maler, so als gelte es, verlorene Zeit aufzuholen. Es entstanden schon damals einige Bilder, die dem Vergleich mit denen anderer, seinerzeit viel bekannterer Künstler durchaus standhalten. Seine ureigene Bildsprache fand Winkler dann um 1960. Sie besitzt jene – man möchte sagen – dichterische Intensität, die über alles konventionell "Schöne" weit hinausgeht und Winklers gesamtes Alterswerk auszeichnet. Es ist ein Alterswerk von enormem Umfang und einer thematischen und formalen Vielfalt, die alles Frühere fast als bloße Vorstufe erscheinen läßt. Noch weniger als vor 1941 kümmerte sich der Maler um irgendwelche aktuellen Tendenzen und Moden der Kunst – ein entschiedener Nonkonformist, der unbeirrt seinen Weg als Maler-Dichter ging und vielleicht deshalb lange nicht im Rampenlicht auftauchte. Heute stellt ihn die internationale Fachwelt eben aufgrund des Alterswerks in eine Reihe mit den großen deutschsprachigen Surrealisten Max Ernst, Richard Oelze und Wolfgang Paalen.

Die Bandbreite der Ausdrucksweisen, mit denen Winkler in den letzten vier Jahrzehnten seines Lebens aufwartete, ist beträchtlich. Von besonderer poetischer Dichte sind die großformatigen Assemblagen der 60er bis 80er Jahre, dreidimensionale Kompositionen in Glaskästen, die wie wuchernde Organismen aus der Verbindung banalster Materialien – oft simpler Abfall – hervorwachsen und den Betrachter in eine Wunderwelt hineinziehen, die voller Rätsel und Abgründe ist, in der aber auch Ironie und Humor nicht fehlen – und vor allem nicht Sinnlichkeit. "Ich habe ein Laster", hat uns Winkler einmal verraten: "die Sinnlichkeit…" Sinnlich, nicht selten sogar von einer prachtvollen Erotik durchdrungen ist auch das übrige Werk. Es oszilliert in mannigfachen Abstufungen zwischen einer vieldeutig-poetisch aufgefaßten Gegenständlichkeit und einer sehr suggestiven Abstraktion, von Fall zu Fall mehr dem einen oder anderen zuneigend, je nachdem, ob der Maler sich mehr als Erzähler und Dramatiker oder als Lyriker artikuliert.

Winkler wußte, daß er mit diesen Arbeiten mehr noch als mit seinem Vorkriegswerk dem Surrealismus nahestand, obwohl er auch nach dem Krieg lange Zeit keinerlei Kontakte zu dieser Bewegung hatte, abgesehen von einer kurzen Begegnung mit Max Ernst 1970 in Vence in Südfrankreich, wo beide in der Galerie Chave ausstellten. Belegt wird die Affinität zum Surrealismus nicht zuletzt durch Kommentare des Malers zu seiner eigenen Arbeit. Ein kurzes Beispiel: "Wichtig […] erscheint mir, inwieweit es jeweils möglich ist, einen unausgefahrenen Weg zu finden, der Entdeckungen verspricht und zu einem Ziel führt, wo es gelingt, eine Tür aufzustoßen und etwas offenbar werden zu lassen. […] Es liegt mir nicht daran, Kunst oder schöne Bilder zu machen." Eine anti-ästhetische Haltung also, wie auch die Surrealisten sie vertreten haben. Ihm gehe es vielmehr darum, so Winkler, "Löcher in die Logik zu stoßen", um zu einer "Erweiterung der Erlebnisfähigkeit", zu einer Infragestellung und Erweiterung unseres Begriffs von Wirklichkeit zu gelangen, der dem Maler in der "totalen Zivilisation unserer Welt" allzu eng erschien: einseitig pragmatisch und materialistisch. Die Welt müsse, wie er forderte, mit neuen, mit anderen Augen gesehen werden, ja, sie müsse neu und anders gedacht werden. Das ist die Voraussetzung ihrer Veränderung, und um diese Veränderung ging es Winkler letztlich ebenso wie den Surrealisten.

In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten ist Winklers Werk, das lange nur ein paar "Eingeweihten" bekannt war, in zahlreichen Einzelausstellungen auch einem größeren Publikum nahegebracht worden. Anläßlich des hundertsten Geburtstags des Malers vor zwei Jahren fanden in Bielefeld, Osnabrück, Frankfurt/M., Dresden, Issoudun/Frankreich etc. etwa anderthalb Dutzend weitere Ausstellungen statt. Zwei Jahre zuvor hatte Winkler jede künstlerische Tätigkeit aus gesundheitlichen und Altersgründen aufgeben müssen, aber für diesen Abschied vom kreativen Schaffen wurde er etwa zur gleichen Zeit entschädigt: Völlig überraschend tauchten bei Aufräumarbeiten im elterlichen Haus bei Dresden hinter einer maroden Mauer zahlreiche – wenn auch überwiegend kleinere – Arbeiten der Vorkriegszeit auf, von denen bis zum jetzigen Zeitpunkt erst wenige öffentlich gezeigt worden sind und die natürlich ganz neue Perspektiven auf das jahrzehntelang so gut wie verloren geglaubte Frühwerk des Maler-Dichters eröffnen, der am 30. September dieses Jahres im Alter von hundertzwei Jahren in Gütersloh verstorben ist

Heribert Becker




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