Mimi Parent: Masculin-féminin - Objekt - 1953 - 47,5×38×12,5cm Home

ANNIE LE BRUN



Sehnsuchtsvolle Beutebilder

[...] von dort, von diesem vor lauter satter Gleichgültigkeit leeren Gestade, habe ich die Bildkästen Mimi Parents auftauchen sehen, die sich ganz und gar gegen den Strom all dessen stellen, was die Zeit - oder besser: ihr zwischen kapriziösem Design und zahmem Kitsch hin- und herschwankender Halbgeschmack - träge bejubelt. Für Mimi Parent gibt es da kein Zaudern. Vor einer Reihe von Jahren, an einem Tag voller Verzweiflung, Freude oder Aufruhr - wer vermag das zu sagen? - , ist sie in die Farbe hinabgetaucht wie andere in die Seine. Doch nicht in die Farbe der Maler, sondern in die der großen Barbaren und der kleinen Wilden, in die Farbe, die sich niemals bändigen läßt und die sie im Intervall zwischen den Dingen erwischt. Ich habe Mimi sogar im Verdacht, daß sie den Grund gesehen hat, jenen Grund, den man nicht erreicht und der die Rückseite der Oberfläche ist. Dies hat sie, abwechselnd unbewußt oder bewußt, heiter oder ernst, erschöpft oder vor Energie überquellend, dazu benutzt, um alles, was ihr entgegentrat, zu beobachten, damit umzugehen, es abzuwägen, wobei sie nach und nach herausfand, daß die Farbe, zu deren bezauberter Gefangenen sie sich gemacht hatte, die Dichte des Traums war.
Und das ist es, was sie uns heute zeigt, auf sehr konkrete Weise und dreidimensional: diese furchterregende Dichte des Traums, die uns mitunter tagelang betäubt oder zerstreut in ihrem farbigen Bann hält, ohne daß man herauszufinden vermag, was uns daran nicht losläßt. Nur hat Mimi, als es ihr gelang, diese beunruhigende Materie in ihre hermetisch verschlossenen Gehäuse zu zwingen, zugleich auch das Mittel erfunden, die Dramen, die unter dem Film unserer Nächte entstehen und davoneilen, erstmals greifbar zu machen. Eine endlose, zeitlose Arbeit, die am hellichten Tag die Arbeit des Traums simuliert, um dessen lyrische Gesetze zu entdecken. Denn da gibt es zwar keinen einzigen Gegenstand, der nicht per Zufall gefunden worden wäre, aber keiner wird diesem Zufall überlassen. Zur Leidenschaft für die Fundgegenstände tritt die Leidenschaft, den irrationalen Zusammenhalt aufzuspüren, der sie aneinanderbindet. Mit dem gleichen wilden Vergnügen, das die Kinder an den
Miniaturwelten, die Utopisten an den gesellschaftlichen Mechanismen, die verrückten Uhrmacher am Perpetuum mobile haben, sucht Mimi nach einer Ordnung, aber einer Ordnung der Dinge, einzig und allein der Dinge, einer Ordnung, die, um den Tod auszuschließen, das Leben ausschließt. Metaphysische Einfalt, die wir nie ganz loswerden und die an sich schon den Grimm der Kindheit erklärt, selbst wenn aus ihm Welten hervorgehen, die anscheinend immer unschuldig sind.
Und wenn Mimi Parent ein grenzenloses Vergnügen daran findet, sich immer weiter von dieser verhängnisvollen Unschuld der Gegegenstände bezaubern lassen, so enthüllt sie uns damit um so besser deren unheimliche Perspektiven. Denn indem sie dergestalt die rätselhaften Szenen des Lebens der Dinge aus dem Opaken hervortreten läßt, setzt sie nicht eine auf den Kopf gestellte, sondern eine gegenläufige Welt ins Bild, in der es sich nicht mehr darum handelt, daß das Imaginäre danach strebt, wirklich zu werden, sondern im Gegenteil das Wirkliche darauf abzielt, imaginär zu werden. Zuerst sieht man in ihr das untergründige Drama der bemalten Gegenstände, die sich nur dann vom Auftrag der Farbe befreien können, wenn sie dazu bestimmt sind, eine imaginäre Rolle zu spielen, so als wäre das Erreichen der dritten Dimension mit dem Übergang zur Irrealität verbunden. Doch man erfährt in ihr auch, welche Gewalttätigkeit am Werk ist, ehe es der Irrealität gelingt, die Realität all ihrer Eigenschaften zu entkleiden. Ein seltsames kleines Theater der Grausamkeit, in dem nach wie vor unser kindliches Verlangen zutage tritt, die Trennwände des Realen in Stücke zu hauen. Sehen Sie es sich genau an, hier ist es eingesperrt und klopft an die Scheibe der Welten Mimi Parents. Sehen Sie es sich noch einmal an, es ist Ihre vom Blitz erschlagene Kindheit, von der nichts übrigbleibt als ein konvulsivischer Regenbogen in einer Träne aus Glas.


Katalog der Ausstellung Mimi Parent. Paris (Galerie Petit) 1984

Falls plötzlich an einer Straßenecke Mimi Parent vor Ihnen auftaucht und Sie erkennt, so bleiben Sie stehen, ohne zu lachen, sie wird Ihnen ein schweres Kästchen geben. Darin werden Sie die Stille der Kristalle, die tausend Farben der Flügel und ein Spielzeug für Alice finden, und ganz unten am Boden, zwischen den Wurzeln und den Krallen, werden Sie, einer Träne gleich, ein Morgenrot entdecken, schön wie die Nacht.
Radovan Ivsic
im Katalog der Ausstellung
Surrealist Intrusion in the Enchanter's Domain.
New York, D'Arcy Galleries, 1962

Annie Le Brun
*1942 in Rennes. Schloß sich 1963 der Pariser Surrealistengruppe an, der sie bis zu deren Selbstauflösung 1969 angehörte. Von 1972 an unter dem Label »Èditions Maintenant« neue Kollektivtätigkeit zusammen mit den Surrealisten Radovan Ivsic, Georges Goldfayn, Toyen, Gérard Legrand, Fabio de Sanctis, Georges Gronier, Adrian Dax u.a. Ist heute eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Frankreichs - und eine exzellente Kennerin von Leben und Werk des Marquis de Sade.



© Annie Le Brun/Mimi

Parent
mit Genehmigung der Woldemar-Winkler-Stiftung der Sparkasse Gütersloh




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