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Wenn das Leben sich langweilt, ist der Tod sein Zeitvertreib


Auszüge aus einem Interview, das Heribert Becker 1989 der Zeitschrift
"TRAFIK - Internationales Journal zur libertären Kultur und Politik" No. 30/31"
zum damaligen Stand der surrealistischen Bewegung gab.
Und dieser hat sich bis zum heutigen Tage nicht verändert..




Unser täglich Brot gib uns heute, Collage von H. Becker, 1994

Interviewer: Wie macht sich Ihrer Einschätzung nach gegenwärtig der surrealistische Esprit in Europa bemerkbar?
H. B.: Das ist sehr schwierig zu beurteilen, denn eine surrealistische Bewegung, die kollektiv an die Öffentlichkeit träte, gibt es schon seit längerem nicht mehr, nur noch einige versprengte Gruppen und eine größere Zahl von Einzelpersönlichkeiten, beides in verschiedenen Ländern. Man weiß zwar voneinander, aber es besteht meist nur ein loser Kontakt. Durch diese Konstellation hat der Surrealismus natürlich einen ganz erheblichen Teil seiner Kraft eingebüßt ... José Pierre, der 15 Jahre lang der Gruppe um Breton angehört hat, schreibt: "Man muß, ob es einem paßt oder nicht, ein für allemal zugeben, daß der Surrealismus ... von 1966 an (also seit Bretons Tod) in eine irreversible 'Diaspora'-Phase eingetreten ist. Es wäre also Betrug, heute noch von einer surrealistischen Bewegung zu sprechen." Und weiter: "Die Poesie scheint mir nach wie vor der privilegierte Weg zur Befreiung des Geistes zu sein. Wenn das poetische Denken nicht länger imstande wäre, das bewußte Denken zu erschüttern und es zu befruchten, dann müßte man die gesamte Menschheit auf den Abfallhaufen werfen." ... Jean Schuster, der seinerzeit - gewissermaßen als Bretons Nachlaßverwalter - die Pariser Gruppe aufgelöst hat ... unterscheidet zwischen einem "historischen" und einem "ewigen" Surrealismus, wobei er unter ersterem die organisierte Gruppenaktivität von 1924 bis 1969 und unter letzterem eine zeitlose menschliche Grundeinstellung des Gegen-den-Strom-Denkens und entsprechend revoltierenden Handelns versteht, die sich in immer neuen Formen und unter immer neuen Namen in der Geschichte manifestiert. Der "historische" Surrealismus ist für Schuster unwiderruflich passé, aber vielleicht, so schreibt er, sei ein "heute noch ungestaltes Namenloses" schon im Begriff, seine Forderungen - Forderungen wie die der Surrealisten - ins Reale umzusetzen. Also Surrealismus außerhalb des Surrealismus? Warum nicht? ... Im Übrigen ... ist festzustellen, daß auch die noch existierenden surrealistischen Kollektive selbst nach wie vor Zulauf vonseiten jüngerer Leute haben; es gibt dort eine ganze Reihe 25- bis 35-jährige. ... fest steht wohl eines: Das Verlangen der jungen Generation nach etwas mehr und etwas anderem

als dem, was die "Verwalter des Untergangs" (wie Octavio Paz unsere Politikmanager nennt) zu bieten haben, nach etwas mehr und etwas anderem als der immer platter und armseliger werdenden Ideen- und Gefühlswelt, in die man die Menschen hineinpfercht, dieses Verlangen ist auch heute noch (oder gerade heute wieder) sehr stark. Und einiges spricht dafür - das auch hierzulande vorhandene Interesse vieler junger Leute am Surrealismus beispielsweise ... - , daß es sich dabei um ein Verlangen nach Poetischem ... handelt. Selbstverständlich bietet die Leistungs- und Konsumgesellschaft für solche Bedürfnisse nur vulgäre Ersatzbefriedigungen feil, die schwerlich aus der großen Sackgasse heraus-, sondern eher noch tiefer in sie hineinführen: den abgetakelten christlichen Krempel, den stinkenden Mystizismus der Sekten, allerlei pseudo-okkulten Hokuspokus und eine Menge anderer geistiger und chemischer Drogen. Das verlangen nach Freiheit ist mit solchen Dingen nicht zu befriedigen. Ob sich die junge Generation auf die Dauer mit ihnen abspeisen läßt? Ich glaube nicht. Einziger Motor einer über die bloße Kosmetik hinausgehenden Veränderung der herrschenden Zustände wird jedenfalls nur diese Jugend sein, von der auch der Surrealismus, weit mehr als von einem reichlich hypothetisch gewordenen Proletariat, seit jeher alles erwartet hat. "Damals", sagte Breton 1942 in seiner Yale-Rede, "als sich die surrealistische Haltung herauszubilden begann, ging es darum, die Jugend zu beschwören, sich nicht allzu schnell ihrer Schätze berauben zu lassen, und ihr einzuschärten, auf sich selbst zu zählen. (...) Der Surrealismus, ich wiederhole es, ist aus einem uneingeschränkten Bekenntnis zum Genius der Jugend hervorgegangen." Zu diesem Genius bekennt der Surrealismus sich immer noch ....
Interviewer: Welche Ein- und Aussichten des Surrealimus könnten uns angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung ... Ihrer Ansicht nach Alternativen des politischen und sozialen Engagements aufzeigen?
H.B.: Vor allem eine: "Keiner von uns darf, wenn es um die Revolte geht, 'Vorläufer' nötig haben." Der Satz stammt von Breton. Auch dieser: "Es ist die Revolte und allein die Revolte, die Licht schafft." Wie sagte Hans Arp so schön: "Es ist gerade noch hell genug, um zu sehen, daß es anfängt, dunkel zu werden."


© Heribert Becker


Égrener ce chapelet..., Collage H. Becker, 1993



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