Interviewer: Wie macht sich Ihrer Einschätzung nach gegenwärtig der
surrealistische Esprit in Europa bemerkbar?
H. B.: Das ist sehr schwierig zu beurteilen, denn eine surrealistische Bewegung,
die kollektiv an die Öffentlichkeit träte, gibt es schon seit längerem
nicht mehr, nur noch einige versprengte Gruppen und eine größere Zahl
von Einzelpersönlichkeiten, beides in verschiedenen Ländern. Man weiß
zwar voneinander, aber es besteht meist nur ein loser Kontakt. Durch diese Konstellation
hat der Surrealismus natürlich einen ganz erheblichen Teil seiner Kraft eingebüßt
... José Pierre, der 15 Jahre lang der Gruppe um Breton angehört hat, schreibt:
"Man muß, ob es einem paßt oder nicht, ein für allemal zugeben,
daß der Surrealismus ... von 1966 an (also seit Bretons Tod) in eine irreversible
'Diaspora'-Phase eingetreten ist. Es wäre also Betrug, heute noch von einer
surrealistischen Bewegung zu sprechen." Und weiter: "Die Poesie scheint
mir nach wie vor der privilegierte Weg zur Befreiung des Geistes zu sein. Wenn
das poetische Denken nicht länger imstande wäre, das bewußte Denken
zu erschüttern und es zu befruchten, dann müßte man die gesamte
Menschheit auf den Abfallhaufen werfen." ... Jean Schuster, der seinerzeit
- gewissermaßen als Bretons Nachlaßverwalter - die Pariser Gruppe aufgelöst
hat ... unterscheidet zwischen einem "historischen" und einem "ewigen"
Surrealismus, wobei er unter ersterem die organisierte Gruppenaktivität von
1924 bis 1969 und unter letzterem eine zeitlose menschliche Grundeinstellung des
Gegen-den-Strom-Denkens und entsprechend revoltierenden Handelns versteht, die
sich in immer neuen Formen und unter immer neuen Namen in der Geschichte manifestiert.
Der "historische" Surrealismus ist für Schuster unwiderruflich
passé, aber vielleicht, so schreibt er, sei ein "heute noch ungestaltes Namenloses"
schon im Begriff, seine Forderungen - Forderungen wie die der Surrealisten - ins
Reale umzusetzen. Also Surrealismus außerhalb des Surrealismus? Warum nicht?
... Im Übrigen ... ist festzustellen, daß auch die noch existierenden
surrealistischen Kollektive selbst nach wie vor Zulauf vonseiten jüngerer
Leute haben; es gibt dort eine ganze Reihe 25- bis 35-jährige. ... fest steht
wohl eines: Das Verlangen der jungen Generation nach etwas mehr und etwas anderem
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als dem, was die "Verwalter des Untergangs" (wie Octavio Paz unsere
Politikmanager nennt) zu bieten haben, nach etwas mehr und etwas anderem als der
immer platter und armseliger werdenden Ideen- und Gefühlswelt, in die man
die Menschen hineinpfercht, dieses Verlangen ist auch heute noch (oder gerade heute
wieder) sehr stark. Und einiges spricht dafür - das auch hierzulande vorhandene
Interesse vieler junger Leute am Surrealismus beispielsweise ... - , daß es sich dabei um ein Verlangen nach Poetischem ... handelt. Selbstverständlich
bietet die Leistungs- und Konsumgesellschaft für solche Bedürfnisse
nur vulgäre Ersatzbefriedigungen feil, die schwerlich aus der großen
Sackgasse heraus-, sondern eher noch tiefer in sie hineinführen: den abgetakelten
christlichen Krempel, den stinkenden Mystizismus der Sekten, allerlei pseudo-okkulten
Hokuspokus und eine Menge anderer geistiger und chemischer Drogen. Das verlangen
nach Freiheit ist mit solchen Dingen nicht zu befriedigen. Ob sich die junge Generation
auf die Dauer mit ihnen abspeisen läßt? Ich glaube nicht. Einziger
Motor einer über die bloße Kosmetik hinausgehenden Veränderung
der herrschenden Zustände wird jedenfalls nur diese Jugend sein, von der
auch der Surrealismus, weit mehr als von einem reichlich hypothetisch gewordenen
Proletariat, seit jeher alles erwartet hat. "Damals", sagte Breton 1942
in seiner Yale-Rede, "als sich die surrealistische Haltung herauszubilden
begann, ging es darum, die Jugend zu beschwören, sich nicht allzu schnell
ihrer Schätze berauben zu lassen, und ihr einzuschärten, auf sich selbst
zu zählen. (...) Der Surrealismus, ich wiederhole es, ist aus einem uneingeschränkten
Bekenntnis zum Genius der Jugend hervorgegangen." Zu diesem Genius bekennt
der Surrealismus sich immer noch ....
Interviewer: Welche Ein- und Aussichten des Surrealimus könnten uns angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung ... Ihrer Ansicht nach Alternativen
des politischen und sozialen Engagements aufzeigen?
H.B.: Vor allem eine: "Keiner von uns darf, wenn es um die Revolte geht,
'Vorläufer' nötig haben." Der Satz stammt von Breton. Auch dieser:
"Es ist die Revolte und allein die Revolte, die Licht schafft." Wie
sagte Hans Arp so schön: "Es ist gerade noch hell genug, um zu sehen,
daß es anfängt, dunkel zu werden." |