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Cap Corse, Peter Schneider-Rabel 2000




ERVIN LÁZÁR
Aus dem Ungarischen von Kristóf Szabó




Fünf, sechs, sieben

Das Getöse der Fabrikhalle ratterte Zähne fletschend zum Fenster hinaus, es wollte die Welt zu Boden drücken, die Blätter der Bäume abreißen, die Mauern eindrücken, die Trommelfelle zum Platzen bringen. Ist es soweit gelangt? Ich weiß es nicht. Bis zu den Wolken bestimmt nicht, bis zur Mitte des Waldes bestimmt nicht, bis in die Herzen der Körner und der Vogeleier bestimmt nicht. Möglicherweise zog es schon am Ende der benachbarten Straße wie ein erschrockener Hirtenhund seinen Schwanz ein, wurde zahm, machte noch zwei Schritte und verging. Zu uns in das Etagenbüro drang es allemal, wenn auch mit der Gewissheit seines kurz bevorstehenden Todes, na, sagen wir, dass es gerade mal sirrte-surrte.
Uns störte es also nicht, wie wir da saßen, um den ernsthaften Tisch herum, ernsthafte Männer in ernsthaftem Schwarz, in unseren Köpfen Zahnradübersetzungen, Transmissionen, Reibungskoeffizienten, Sinusse, Drehmomente, Winkelverschiebungen, Valenzen und Atomgewichte.
Und da quietschte die Klinke laut.
- Hab ich nicht gesagt, dass niemand...-, sagte der Direktor, aber das Wort blieb ihm
im Halse stecken, und uns ebenso, Technikern, Ingenieuren, Werkmeistern, Obermaschinisten, Maschinisten, Dispatchern stockte der Atem. In der Tür stand in einem Hemd, das so rot war wie der Klatschmohn, in einem blutroten Frack, in einer tomatenroten Hose ein weißbärtiger Alter, in Hut und Stiefeln. Diese waren schwarzdrosselschwarz.
Den Weißbärtigen ließ weder die Stimme des Direktors, noch die ertönende Stille innehalten; mit seinem Blick niemand anderen berührend, trat er an mich heran.
- Sie erwartet Sie -, sagte er, seine schwarzdrosselfarbenen Stiefel waren im Boden
verwurzelt, sein schwarzdrosselschwarzer Hut hoch in der Luft, so weit oben wie ein Elsternest.
- Wer, wer erwartet mich, sehn Sie nicht, dass ich zu tun habe? - schrie ich, weil
sowohl eine Befürchtung des Clownrot-Teufelschwarzen, als auch die Unruhe, die aufgrund des Durcheinanders entstanden war, über mich hereinbrachen. Die Strahlen von ein Dutzend Augenpaaren - so spürte ich - könnten mich beschützen, doch diese machten mir bereits Vorwürfe, waren bereits feindselig, hatten mich bereits fallengelassen.
- Die Blume -, beteuerte der Rot-Schwarze -, ihre Blume.
Lacher blubberten, zweideutige Seufzer, eine Blume! - Mein Gesicht wechselte ins Frackrote, ins Hosenrote, ins Hemdrote.
- Welche Blume, ich kenne gar keine Blume -, zischte ich, aber in meinem
Verstand forderten bereits Valenzen Zahnradübersetzungen zum Tanz auf, die Drehmomente schlugen die Knöchel zusammen, die Reibungskoeffizienten setzten die Transmissionen wie ein Musikinstrument an ihre Schultern.
Oh, Köpfe in Schwarz.
Der Greis sprach weiter, als ob er meine verstörte Empörung gar nicht bemerkt hätte:
- Sie werden im Wald von ihr erwartet, in der Mitte der Lichtung.
Damit zog er auch schon aus dem Zimmer, in der Tür ließ ihn das ausbrechende Gelächter verweilen, er ließ seine schwarzdrosselschwarzen Augen über die Gesellschaft gleiten, als ob er den Raureif über ihre gute Laute gehaucht hätte; so saßen sie im Raufrost-Ernst da, bis er hinausgetreten war.
Erst da, haha, hihi, platzte ein Gelächter los, dass es nur so schnalzte, hüpfte, dröhnte, erst da platzten, schnalzten, hüpften und dröhnten die auf mich gerichteten Finger und die Zahnreihen mit Brücken und die Zahnreihen ohne Brücken, die Münder wie Ah, die Münder wie Oh, die Münder wie Pflaumen, die Münder wie Graupen.
Ich stand leise auf - schöner Ball im Kopf -, zürnte nicht den Lachenden und auch nicht diesem merkwürdigen Alten; Zorn, wie wäre mir auch so etwas in den Sinn gekommen, wo ich mir schon beinahe sicher war: Auf einer Waldwiese erwartet mich eine Blume. Als ich in den Hof des Betriebes trat, konnte ich an der Existenz meiner Blume nicht zweifeln, denn das Getöse wagte es nicht, mich zu berühren, es schwirrte über meinen Kopf hinweg, auf meinen Rücken zuhaltend teilte es sich entzwei, in ehrbarem Abstand umging es meine Schultern, auch unter meine Füße traute es sich nicht.
Es ist wahr, mich erwartet eine Blume!
Siehe da, auch das Gebell der Vorstadthunde gelangt nicht zu mir, ich sehe nur die schnappenden Mäuler, die gefletschten Zähne, die Laute fallen wie Steine ein Paar Meter von mir entfernt auf die Erde herab.
Ich lief los.
Im Wald häutete sich die Glashauben-Stille mit leisem Knacken von mir ab, die Vogelstimmen, Blattgeräusche berührten meine Haut.
Auf der Waldwiese wartete eine weiße Blume. Sie bibberte.
- Ich friere -, flüsterte sie - hilf!
Ich kauerte mich neben sie, mit meinen beiden Handtellern umfasste ich sie behütend.
- Ich friere -, sagte sie wieder.
- Ich kann dich anhauchen -, murmelte ich, denn wie hätte ich sie sonst wärmen
können?
- Sonne, die Sonne will ich - sagte sie.
- Aber die Sonne ist oben am Himmel. Sie scheint auf dich - antwortete ich ihr.
- Ich erfriere -, flüsterte sie in einem bemitleidenswerten Ton.
- Ich kann nichts tun -, sagte ich bitter, aber sie fiel mir ins Wort.
- Doch! Du kannst! Heute ist Montag, die über uns ist die Sonne am Montag.
Gib mir die vom nächsten Tag. Gib mir die Sonne von Dienstag.
Ich wollte sagen, dass mir dazu die Macht fehlte, doch den Kräutern und den Bäumen konnte ich ansehen, dass ich so etwas nicht sagen konnte, die Kräuter und die Bäume neigten sich zu mir, der Bogen ihrer angespannten Rücken war mir Ermutigung, Gewissheit.
- Gut -, sagte ich zur Blume -, ich gebe dir die Sonne von Dienstag.
Kaum hatte ich es ausgesprochen, erschien im Osten mit blutrotem Kopf die Sonne von Dienstag, sie blinkte, zauderte, dann, wie ein entfernter Luftballon, begann sie, in flüssiger Luft zu steigen.
Die Kelchblätter meiner Blume wuchsen sichtlich, ihre Farbe wechselte ins Märzblumengelb.
- Siehst du, richtig lau ist es mir, siehst du -, stammelte sie, einen Augenblick lang
begann sie zu lächeln, und im Licht der beiden prunkenden Sonnen sagte sie immer noch bibbernd:
- Auch die von Mittwoch!
Und ich streckte meine Arme glücklich in den Himmel, sollte sie doch kommen. Und die rötende, giftige Blase schwamm schon auf den Zenit zu.
Drei Sonnen leuchteten hell am Himmel, dreifaches Licht vibrierte zwischen den Bäumen, die Wärme schunkelte die Erde durch und durch, nahm uns auf den Rücken wie ein dickwässriges, gutmütiges Meer; wir schwebten, wir schwangen, wir stiegen, das Kelchblatt meiner Blume wurde fülliger, setzte Fleisch an, ihr nun meergrünes Lächeln sickerte bis in meine Knochen, durchzog auch die Bäume und die Kräuter; die Zweige der Sträucher erstrahlten.
- Sonne, Sonne, noch mehr Sonne -, schrie sie beglückt, brach in lautes klares
Lachen aus, und auf mein Zeichen hin, wie ein beflügeltes Zauberpferd, hüpfte auch die Sonne von Donnerstag hinauf, das Licht und die Wärme umspannten uns wohlig, sie umklammerten uns, die mit Licht durchtränkte Erde ergoss die Wärme aus sich in Strahlen, die Bäume wogen in ihrer besinnungslosen Seeligkeit ihre Stämme, das Licht drang bis zu ihren Haarwurzeln.
Meine Blume wuchs zu der Größe einer Tulpe heran, prunkte mit dem blauen Glitzern von Edelsteinen, leuchtete wie oben die vier Sonnen.
Ohne mein Zutun brachen die Worte aus mir hervor:
- Auch die von Freitag soll dir gehören, los, Sonne von Freitag!
Da kam sie unverzüglich, golden, majestätisch; das Licht drückte uns gegen die Erde, ließ sich mit Zentnergewicht auf uns nieder, man hörte das stockende, wollüstige Atmen der Bäume. Meine Blume wurde stählernrot im Prunk der fünf Sonnen, üppig und verführerisch taumelte sie vor meinem von Schweiß gestreiften Gesicht; in ihrem Rot sprühte der Hochmut Funken, fünf Sonnen am Himmel, fünf geschmolzene goldene Kugeln.
- Auch die von Samstag! -, schrie die Blume, und ich, nicht wissend, was ich tat, plapperte ihr nach:
- Auch die von Samstag!
Die Samstag-Sonne ging keuchend auf, schwer stieg sie empor in der siedenden Lichtflut, unsere Augen ertrugen kaum noch die Messerklingen-Blendung, die Glut walzte uns gegen die Erde, das Kreuz der Bäume knarrte in der Umklammerung der drückenden Wärme, wir keuchten nur noch, ich presste mein Gesicht gegen die Erde, Purpurfarbe ergoss sich um mich herum. Ich wusste, meine Blume ging ins Purpurrote über, schon war sie größer als ich, in ihrem armdicken Stiel konnte man das Zirkulieren der Säfte sehen, mit unartikulierter Stimme schrie sie auf, und ich, gegen die Erde Gewälzter, halb zu Tode Gedrückter wusste, was sie wollte; ich hob meine Hand, die Bewegung, oder weniger noch, die Regung war gerade noch zu sehen, aber schon brach die Sonne von Sonntag auf und schritt ihren Weggenossen hinterher. Die Helligkeit gab jetzt Töne von sich, sie tobte und brodelte, die Luft wurde so dickflüssig wie Quecksilber, ich wartete, dass mich die Glut aufsaugte, sie mich in sich schmolz, meinen Handteller presste ich auf meine Augen. Vielleicht lebe ich gar nicht mehr, dachte ich, vielleicht ist die ganze Welt schon homogen, dicke Lava. Auch ich schwimme in ihr, meine Zellen entfernen sich dort langsam voneinander, zart berühren sie die zerstreuten Zellen der Vögel, der Fische, der Pflanzen, dann schwimmen alle, zerfallen in Atome: Steine, Felder, Fabrikschlote, Kinderspielzeug gemeinsam mit meinen Atomen. Oh, sieben Sonnen am Himmel!
- Wetten, dass du jetzt schwarz bist -, stöhnte ich meiner Blume zu, aber dann glitt
auf einmal ein kühler Hauch über meinen Rücken, ich spürte: Kühle Dünste fielen auf mich, ich hob meinen Kopf, rotes Licht blendete mich einen Augenblick lang, dann nichts mehr, gerade noch, dass ich den rötenden Saum der sieben wie Steinbrocken zu Boden stürzenden Sonnen erblickte: Dunkelheit umgab mich. Schwarz, schwarz, blumenschwarz.
Das Frösteln durchfuhr meine Haut, langsam, erbarmungslos sickerte es auf meine Eingeweide zu.
- Wo bist du -, schrie ich, - wo bist du? Aber es kam keine Antwort. Meine Blume
gab nichts von sich.
Langsam, behutsam begann ich, die Erde um mich herum abzutasten. Ich suchte die Blume, aber nur Gras, Kieselsteine, Kieselsteine, Gras. Immer schneller kroch ich, schon kümmerte mich nicht einmal, dass ich die Blume, kreuzte sie dennoch meinen Weg, niedertrampeln könnte, wenigstens ihren gebrochenen Stiel, ihre zerknitterten Kelchblätter musste ich berühren, damit ich wusste, dass es sie gab, damit ich meine Blume spüren konnte. Aber ich fand sie nicht. Und es kam mir wie ein Blitz in den Sinn, du lieber Gott, sechs Tage lang wird es dunkel sein, es wird sechs Tage keine Sonne aufgehen. Ich rannte los, im Glauben, auf dem Weg nach Hause zu sein, aber Ranken wickelten sich um meine Beine, Geäst schlug mir ins Gesicht, ich prallte gegen Baumstämme. Immer wieder stürzend irrte ich im Wald umher, sterbensmüde. Der Schlaf kam nur für wenige Minuten; in der ausharrenden Dunkelheit wusste ich nicht, war heute Dienstag, Freitag, ob Morgen oder Nacht, ich stammelte, ich schrie, vielleicht weinte ich auch. Dunkel, dunkel, dunkel. Beinahe glaubte ich, ich würde sterben, ohne jede Hoffnung, durchfroren lag ich da, auf todkalter Erde. Eulenschatten zogen über mich hin, Schuppen von Reptilien berührten meine erstarrte Haut.
Oh, siebensonniger Himmel, glühende Lava, schwarze, schwarze Blume!
Dann, als mir so war, dass ich alles nicht mehr ertragen könnte, begann der Saum des Himmels zu tagen, aus der Gräulichkeit erhoben sich dunkelnd die Baumstämme. Der Tag brach an.
Ich lief in Richtung Stadt; sobald ich das Getöse der Fabrik hörte, wurde ich von Glück und Angst ergriffen.
- Seid mir nicht böse -, sagte ich zu meinen Kollegen, - seid mir nicht böse wegen
der sechs Tage Dunkelheit.
Sie sahen mich verwundert an, zogen die Augenbrauen in die Höhe.
- Wovon sprichst du? Was denn für sechs Tage Dunkelheit? - fragten sie
mich.
Ich presste meinen Rücken gegen die Wand. Nicht einmal bemerkt hatten sie das Scheinen von sieben Sonnen am Himmel, nicht einmal bemerkt hatten sie die sechs Tage anhaltende Dunkelheit. Ich presste meinen Rücken gegen die Wand.




© Ervin Lázár / Kristóf Szabó



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