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Yoko Tawada




DIE ORANGERIE



Woher kenne ich diese Farbe?
An einem Dezembertag
Nach einer Reise durch Südostasien
Als ich wieder nach Hamburg kam
Vor meinem Fenster
Die Straße, eine durch Schnee korrigierte Linie
Die lange Nacht kam mit pfeifenden Schiffen
Und dann sah ich
Den Müllwagen
Mit drei Männern auf dem Rücken
Ihre Uniform hatte genau die gleiche Farbe
Wie das Mönchsgewand in Thailand
Das Orange, das das Wort im Schatten wachruft
Die Schale einer Frucht
Die nicht geschält werden will
Das Innere enthält kein Licht
Bleib' ungeschält!
Deine Schale ist Obst wert
Dagegen die Stücke einer Orange
Bloße Gerüchte von Vitamin C
Ein saures Bereuen
Die Orangenschale
Strahlt in der Farbe der Betenden,
Die uns im Morgennebel besuchen
Um Almosen abzuholen
Wir drücken die weiche Stirn gegen die Erde
Bis ihr Gebet endet
Bis der Müllwagen davonfährt
Ein Motor ahmt das Gebet nach
Der Müllbeutel ist ein Geschenk für die Heiligen
Greift man tief in den Beutel
Erhellt sich die Hügellandschaft im Traum
Man wirft den Beutel ins Loch des Müllwagens
Das Beste werfen wir immer in den Müll
Verpackungspapier einer Seife
Rote Wurzeln von grünem Spinat
Verschimmelte Manuskripte
Oder alte Schuhe, die schon zu viele Wege kennen
Die orangenfarbenen Männer holen den Beutel ab
Der Beutel, das Hotel
Für altes Porzellan oder totes Gerät
Der Beutel, die junge Schachtel, der Sarg für das neue Leben
Ein Geschenk der Industrie




Schmutzig
Sagen alle Kinder
Was ist das?
Hat keinen Namen
Auf der Straße gefunden
Man darf es nicht anfassen
Was ist das?
Hat keinen Namen
Auf der Straße gefunden
Man darf es nicht anfassen
Was ist das?
Namenlos, das auf der Straße Gefundene
Eine Orange liegt unter dem Apfelbaum
Auch sie ist schmutzig
Und namenlos
Die Erde ist schmutzig
Sagen alle Kinder
Man darf sie nicht essen
Alle Kinder sind
Auf der Erde gefunden worden
Ein Fundstück, ein Findling
Schmutzig, schmutzig
Der Schmutz ist das Endprodukt
Aus dem, was war
Wurde der Schmutz
Der Schmutz auf dem Papier
Das Schmatzen der Tinte
Dieser Fleck
Größer als jedes Komma
Länger als jeder Gedankenstrich
Der schwarze Fleck verblaßt nicht
In ihm versammeln sich Ameisenbuchstaben
Immer mehr
Dicht übereinander
Die Masse
Oder das Muttermal unter dem Auge
Die Tränen zeichnend
Die nicht fließen können
Der Schmerz, der Schmutz, der feuchte Sand




Der Schmutz, der Schmuck
Der junge Buddha
Behängte sich mit Schmuck
Ringe, Ketten, Broschen
Der Traum eines Prinzen: ein Mädchen zu werden
Lieber ein Mädchen werden als ein König
Wie eine Opferkuh
Geschmückt mit Orchideen und Gold
Jeder Prinz ist einmal als Kuh gestorben
Verbrannt im Feuer
Seine Zunge und Knochen wurden in den Fluß geworfen
Die Asche liegt in der Asche
Einmal geschmückt als Opfer gestorben
Der junge Buddha schält sich aus dem Schmuck
Es bleibt bei ihm nur noch ein Tuch
Ein Tuch
Ein Buch
Die heiligen Schriften
Nach der ersten Seite
Kommt keine weitere mehr
Dennoch ist die erste Seite nicht die letzte
Ein Tuch
Eine Türkin trägt es als Kopftuch
Der Wind nimmt es mit
Und legt es auf den Unterleib eines Kreuzes
Das Leinwandtuch
Wenn es im Kino dunkel wird
Verläßt das Tuch das Kreuz
Und fliegt in die Küche hinein
Das Wischtuch
Das den Wunsch des Schmutzes
Vom Tisch aufnimmt
Draußen unter der Mittagssonne
Ohne Schatten und Stimmen
Erstarrt die Luft in der Hitze
Kinder gehen barfuß die Mauer des Tempels entlang
Die Kleineren von ihnen kichern
Hinter den Rücken der Größeren
Die sich ohne Wort fortbewegen
Ihre schmalen Hände berühren einander
Flüchtig wie durch Zufall
Zärtlich, nachdenklich und unbekümmert
Ihre Körper sind eingewickelt
In orangenfarbenen Tüchern
Der Tempeldienst in Thailand
Die Bundeswehr in Deutschland
Wie wär's, wenn alle Soldaten
Orangenfarbene Tücher als Uniform hätten?
Mit einem einzigen Tuch den Leib bekleiden
Ein Tuch, ein prächtiges Abendkleid
Mit Säumen und Versäumen
Ein Tuch, ein Fetzen, das den Hals des Bettlers wärmt
ein Tuch, ein roter Sari
Seine rote Farbe und die der Sonne
Sie beißen sich
Ein Tuch, ein orangenfarbenes Mönchsgewand
Kosten und Lüste
Listen der Verführer
Sparsamkeit und Ästhetik
Ein Tuch ist ein Tuch
Seine Innenseite trifft die Außenseite warm




Heute schon wieder
Die Mülltonne ist vollgestopft
Mit Geldscheinen
Dieser Hundertmarkschein
Ist er heute, hier, jetzt noch gültig?
Der Schein trügt
Er gilt jetzt nur noch drüben
Hinter der Grenze
Bei den Toten
Wir müssen ihn verbrennen
Nur die Asche erreicht das Jenseits
So wie bei den Chinesen, die Totengelder verbrennen
Als Geschenk
Kein Arbeitslosengeld für die Toten
Aber die Opfergabe
Der Hundertmarkschein muß in den Beutel hinein
Der ins Feuer geworfen wird
Oder wir kleben ihn auf die Fensterscheibe
Vor dem Schreibtisch
Im Schein der untergehenden Sonne
Von hinten beleuchtet
Noch ein Schein von Hoffnung
Festgeklebt mit Tesafilm
Er ist nicht heilig, der heilige Schein
"Die Liebe ist böse, das Geld ist gut"
Sagte ich
um das Katholische in mir zu ärgern
Das Geld ist immer gut, die Liebe ist immer schlecht
Das Gegenteil ist genauso wenig wahr
Wer nicht von Geld reden will
Verehrt es heimlich
Falten wir ein kleines Flugzeug aus dem Geldschein
Und werfen wir es aus dem Fenster
Kein Blick kann ihm entgehen
Schein und Wahrheit
Beides kommt in die Mülltonne
Die in Flammen aufgeht
Damit die Toten sie sehen können




Der Tigergott vor dem Tempel
Bekommt rohes Fleisch
Und angebrannte Geldscheine in das Maul hineingesteckt
Jeden Morgen
Plastikweiß die Zähne der heiligen Großkatze
Fleisch und Geld
Guten Appetit
Seine glänzende Querzeichnung
Erscheint eines Tages
Auch auf der Haut des Geldscheines
Der Tiger lacht
Eine Gottheit aus zerschlagenem Porzellan
Hinter ihm führt der Weg in den halbdunklen Raum
Zwei weibliche Augen starren auf uns
Die ins Papiergeld eingepflanzten Augen
Das Papier ist zerrissen und flattert im Wind
Der Geldbaum
Seine Blätter sind Banknoten
Der Hundertmarkschein mit dem Bildnis einer Frau
Eine Opferkuh
Ihren Blick vermeiden wir jedesmal
Wenn wir das Portemonnaie öffnen
Vorsicht!
Die dunkle Öffnung
Wir geben den Schein schnell weiter
Um dem Blick der Papierfrau zu entfliehen
Die Gläubigen bringen Opfergaben
Zu dem Geldbaum, dem Bonsai-Lindenbaum
Der Baum bringt das Geld
Zu denjenigen, die nicht hier sein können
Nicht nur das Geld
Neben dem Baum steht
Eine weiße Flasche Reinigungsmittel für die Toiletten
Wer hat daran gedacht?
Auch die Toten brauchen Waren aus dem Supermarkt
Und die Zahnbürste
Putzen die Toten ihre Zähne?
Die winzigen Flaggen flattern in der Luft
Es riecht nach Sandelholz
Etwas brennt an
Das Geld
Wer es ablehnt, täuscht sich
Wer es annimmt, ist enttäuscht




Die Müllmanner
Und die thailändischen Mönche
Sitzen zusammen in der Orangerie
Aus diesem Traum mußte ich erwachen
Uhrzeiger, Ungeziefer
Die Zahlen zeigen die Uhrzeit
Die Uhrzeit, der Urwald
Es gibt keinen Ausweg dort
Aufstehen und kalt duschen
Das Wasser friert und zittert
Nicht ich, das Wasser sagt, es sei kalt
Mir ist nicht kalt
Nicht mir, nicht ich
Kalt duschen
Diese Kälte ist nur die Einbildung des Wassers
Nicht meine, nicht ich
Mir ist nicht mehr dunkel
Mir ist sechs Uhr
Ich möchte barfuß gehen
Nicht ich, nicht mein Fuß
Gehen
Keine Schuhe
Berührt der Weg meine nackten Sohlen
Die Straße
Mit Hundescheiße beschmiert
Glasscherben schmücken sie
Keine Schuhe, dafür eine Fahrkarte?
Ich würde fahren
Wenn
Ein kleines Fahrzeug
Oder ein Fuß mit Motor
Oder ein Tier mit einem Rad
Oder vier Beine mit einem Tier
Oder zwei Räder mit drei Beinen
Meine Gedanken fahren immer mit einem Fahrzeug
Ein Mensch oder ich gehen barfuß gedankenlos
Eine Porzellanschale in der Hand
Das Gefäß für das Überflüssige
Die Reste, die abfallen
Wir bitten um das Nutzlose
Ein paar abgerissene Paketbänder
Oder eine verschriebene Postkarte
Oder zu kurze Bleistifte
Was ich in der Schale sammle
Das sind keine Wurzeln, kein Gold, kein
Schweiß
Der Rest von mir
Der Überrest von mir, das ist ich
Das Beste legt man in die Asche
In der Asche flackert noch
Der Rest des Feuers
Die Farbe des Feuers
Die Farbe jener Frucht
Die Müllmänner
Und die thailändischen Mönche
Sitzen zusammen in der Orangerie



aus "Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden", 1997

© Yoko Tawada/Claudia Gehrke - Konkursbuch Verlag Tübingen




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