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Yoko Tawada




Ges–ICH–ter

Seitdem ich auf dieser Welt geboren bin, habe ich niemals mein Gesicht von außen gesehen. Kein Spiegel zeigt mir, wie ich im Gespräch mit einer anderen Person aussehe. Oft sehe ich im Gesicht der anderen rätselhafte Züge. Sie faszinieren mich, und ich spiegele sie auf meinem Gesicht wider. Mein Gesicht ist ein Skizzenbuch. Die Person, die mit mir spricht, entdeckt in meinem Gesicht Zeichnungen der eigenen Gesichtszüge und steigt in sie ein, so wie man in einen Fernzug steigt.

Ich weiß nicht, wie ich von außen aussehe. Von innen aber habe ich mein Gesicht schon oft gesehen: eine schattige Landschaft mit einem sumpfigen Wald und zwei gefrorenen Seen. Außerdem gibt es dort eine Tropfsteinhöhle und zwei Tunnel mit Muscheln im Netz. Ich trete in diese Landschaft ein und verlaufe mich.

Ich kann das Gesicht jener Frau nicht von innen sehen. So werde ich zu einem Wind und streichele die Oberfläche ihres Gesichtes. Ihr Gesicht ist eine menschenlose Landschaft. Der Wind liest die Blindenschrift, die auf dem Feld geschrieben ist. In dem Moment werden zwei Seen auf dem Feld sichtbar. Tasten ist Sehen ohne Distanz. Wenn es weht, rauschen blonde Gräser und graublaues Wasser.

In der Tropfsteinhöhle, aus der der blinde Wind bläst, lebt ein nacktes Ungeheuer mit rötlicher, feuchter Haut. Der Boden ist klebrig naß und glänzt blutrot. Der Unterleib des Ungeheuers ist an dem Boden festgewachsen. Es knurrt nicht, heult nicht, spricht nicht. Wenn das Tier sich aber bewegt, entsteht ein stöhnender Wind. Er fliegt aus der Höhle heraus und verwandelt sich in Wörter.

Ein blinder Wind entsteht in einer Landschaft und bewegt sich in eine andere. Dann kehrt er zurück oder zieht weiter in eine dritte Landschaft. Der Wind gehört keinem Ort. Es wird auf einmal still, und dann weht es wieder. Ist dieser Wind ein anderer als der letzte? Wie kann man Luftzüge auseinanderhalten? Hat ein Wind ein Gesicht?

Ich sehe das Gesicht des Windes, wenn das Wasser Lachfalten zeigt oder Grimassen schneidet. Ich sehe sein Gesicht, wenn das letzte Blatt am Baum mit dem Kopf schüttelt. Das Gesicht des Windes ist das, was er in Bewegung setzt.



aus "Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden", 1997

© Yoko Tawada/Claudia Gehrke - Konkursbuch Verlag Tübingen




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