Biobibliographische
Notiz

Aus Heribert Beckers (Übersetzer, Herausgeber) André Breton: Bindestrich. Texte 1952–1965, Rimbaud Verlag, Aachen 2008



ndré Breton, Mitbegründer, wichtigster Theoretiker und jahrzehntelang die zentrale, richtungweisende Persönlichkeit des Surrealismus, wurde 1896 in Tinchebray im Departement Orne in der Normandie geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte der dem provinziellen Kleinbürgertum entstammende Dichter in der Pariser Banlieue und in Paris selbst. Dort trat er bereits 1913 in Kontakt mit Paul Valéry, der für ihn eine Art erster literarischer Lehrmeister war. Seine frühen Gedichte standen noch im Bann Stéphane Mallarmés und des späten Symbolismus. Nach der Aufnahme eines Medizinstudiums, das er später abbrach, wurde er 1915 für den Sanitätsdienst mobilisiert. Im folgenden Jahr lernte er in Nantes den »Dandy« Jacques Vaché kennen, der ihn lehrte, was Humor ist und dass man nichts, auch sich selbst nicht, allzu ernst nehmen darf. Er beschäftigte sich intensiv mit dem Werk Rimbauds und machte sich wenig später im Rahmen seiner Arbeit in neuro-psychiatrischen Krankenhäusern mit den Theorien Sigmund Freuds vertraut (den er 1921 in Wien besuchte), was letztlich dazu führte, dass die Psychoanalyse zu einer wichtigen Basis des späteren Surrealismus wurde. 1917/18 verkehrte er häufig mit Guillaume Apollinaire, der für ihn die Verkörperung des »Geistes des intellektuellen Abenteuers« war, und entdeckte schließlich das Werk Lautréamonts, das ihn seine Vorstellungen von moderner Poesie und Literatur radikal in Frage stellen ließ. Alle diese tief wirkenden Einflüsse veranlassten ihn, seine kaum begonnene Literatenkarriere abzubrechen, um sich ganz der Suche nach einer neuen Art von Poesie zu verschreiben, in welcher der Gegensatz zwischen Kunst und Leben nicht existierte.

Als 1919 ein erster, seine vorsurrealistische Lyrik enthaltender Gedichtband, Mont-de-Piété, erschien, beschritt er mit zwei jungen Weggefährten, Louis Aragon und Philippe Soupault, bereits neue dichterische Wege. Mit letzterem erprobte er 1919 eine Methode des Schreibens, die der Poesie und darüber hinaus der geistigen Erfahrung schlechthin durch ein tiefes Eindringen in die Welt des Unbewussten neue Horizonte eröffnete: die »automatische Schreibweise« (Les Champs magnétiques, 1920). Er legte damit den Grundstein zum späteren organisierten Surrealismus, den er selber 1924 als »reinen psychischen Automatismus« definierte: »Denkdiktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, außerhalb jeder ästhetischen oder moralischen Erwägung«. Schon damals legte Breton größten Wert darauf, das geistige Abenteuer, dem er sich verschrieb, gemeinsam mit anderen Menschen zu erleben, die wie er von der Notwendigkeit überzeugt waren, die Wirklichkeit umfassender und tiefer zu erleben und zu verstehen – in diesem Sinne sind die Worte surrealité und surréalisme gemeint – und sie entsprechend zu verändern. Zunächst aber, von 1919 bis '21, stellten sich die drei Freunde mit ihrer Zeitschrift Littérature (33 Nummern in zwei Folgen, 1919–24) in der Absicht, Tabula rasa mit allem Überkommenen in Literatur und Kunst zu machen, in den Dienst des Dadaismus, einer zwar kurzlebigen, in ihrem Bruch mit den ästhetischen und geistigen Traditionen aber umso radikaleren antibürgerlichen Bewegung, die alles Konventionelle und Konformistische hinwegzufegen suchte. Wie bald darauf auch der Surrealismus, war Dada aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs entstanden, dieser »Kloake aus Blut, Dummheit und Dreck« (Breton), die nach Ansicht der jungen Aufrüher zeigte, dass die bürgerlich-kapitalistisch-christliche Zivilisation mit ihren Werten und Moralvorstellungen, die Breton und seine Freunde fortan bis in ihre Fundamente hinein bekämpften, in Wahrheit eine Barbarei sei und keine Daseinsberechtigung mehr besitze.

Nach dem Zerfall Dadas lenkte Breton die Aktivität der inzwischen durch weitere Gleichgesinnte (René Crevel, Robert Desnos, Paul Éluard, Max Ernst, Benjamin Péret, dann Pierre Naville, Man Ray, André Masson, Antonin Artaud, Michel Leiris, Joan Miró, Raymond Queneau, Jacques Prévert, Yves Tanguy und andere) erweiterten Gruppe verstärkt auf die Erforschung des Unbewussten: durch automatisches Schreiben, das Aufzeichnen und Analysieren von Träumen sowie Experimente mit »hypnotischem Schlaf«. 1923 legte Breton mit dem Gedichtband Clair de terre neue Resultate seiner »automatischen« Poesie vor, denen im Jahr darauf Poisson soluble folgte. Als Vorwort zu diesen Prosagedichten konzipiert, veröffentlichte er im Herbst 1924 ein Manifeste du surréalisme, das zur Grundlage der unmittelbar darauf sich konstituierenden surrealistischen Bewegung wurde und das ihn »auf den historischen Platz stellte, der fortan der seinige sein sollte« (Gérard Legrand). Fortan war Breton über mehr als vier Jahrzehnte hinweg der führende Theoretiker und die Integrationsfigur des Surrealismus, sein Denker und Lenker, ohne dessen außergewöhnliche dichterische Sensibilität und geistige Weitsicht, gepaart mit intellektueller und moralischer Unbestechlichkeit, charismatischer Anziehungskraft und dem festen Willen zur grundlegenden Veränderung der Welt, das kollektive Abenteuer Surrealismus vermutlich nie stattgefunden hätte.

Erstes Organ der Gruppe war die Zeitschrift La Révolution surréaliste (12 Nummern, 1924-29), deren Leitung Breton von der vierten Nummer an übernahm und die deutlich machte, dass er und seine Freunde nach dem Erlebnis des Krieges »wie besessen von einem Willen zum Umsturz« (Breton) waren. »Alle Institutionen, auf die sich die moderne Welt gründet und die soeben im Ersten Weltkrieg gezeigt haben, was aus ihnen resultiert, werden von uns als abartig und skandalös betrachtet« (Breton). Um den Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung wirklich effektiv zu führen, musste laut Breton »gegen ihre Grundlagen selbst vorgegangen werden, die in letzter Konsequenz logischer und moralischer Natur sind: die in Kurs befindliche sogenannte >Vernunft<, die ein Etikettenschwindel ist, hinter dem sich der platteste >gesunde Menschenverstand< verbirgt, und die vom Christentum mit der Absicht verfälschte >Moral<, jeden Widerstand gegen die Ausbeutung des Menschen zu lähmen». Sein und der Gruppe wachsendes politisches Bewusstsein, ausgelöst durch den Kolonialkrieg Frankreichs in Marokko und gefördert durch Bretons Lektüre marxistischer Schriften, brachten die Surrealisten zu der Ansicht, »dass das, was sich in der sie umgebenden Welt als noch schockierender – bei weitem schockierender – darstellte, die Knechtschaft war, in der ein Teil – zudem ein winzig kleiner Teil – der Menschheit den anderen hielt, ohne dass es dafür die geringste Rechtfertigung geben konnte« (Breton). Der Autor des Manifests und seine Mitstreiter nahmen Kontakt zu marxistischen Intellektuellen auf, und 1927 trat Breton mit vier anderen Surrealisten in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, um aktiv und so effektiv wie möglich an der radikalen Veränderung der Gesellschaft mitarbeiten zu können. Damit gehörten sie zu den ersten Künstlern und Intellektuellen außerhalb der UdSSR, die sich offen zum Kommunismus und zur proletarischen Revolution bekannten – eine Orientierung, der aber keineswegs alle Surrealisten folgten, was 1929 zu einer schweren Krise innerhalb der Gruppe führte. Im gleichen Jahr lieferte Breton in seinem Second manifeste du surréalisme eine modifizierte Definition der Ziele und Absichten seiner Gruppe: Bekenntnis zum dialektischen Materialismus und zur sozialen Revolution, aber auch Beharren auf dem Gedanken der Unverzichtbarkeit einer inneren, geistig-moralischen Revolution, die letztlich die gesamte abendländisch-christliche Zivilisation in Frage stellte. Aufgrund dieses Festhaltens an einem eigenständigen, umfassenden Revolutionsbegriff seitens Bretons kam es sehr rasch zu Differenzen mit den Kommunisten, die um so größer – und schliesslich sogar unüberbrückbar – wurden, als der Kommunismus rasch zum Stalinismus degenerierte. Bereits Anfang der 30er Jahre war das Verhältnis Bretons und der Surrealisten zur KP weitgehend zerrüttet.

Wie sehr Breton für sich selbst an den spezifisch surrealistischen Postulaten festhielt, dokumentiert die lange Reihe bedeutender dichterischer, theoretischer und essayistischer Werke, die er in diesen und in den folgenden Jahren veröffentlichte: Le Surréalisme et la peinture (1928), Nadja (1928), das erwähnte zweite Manifest, L'Immaculée conception (zusammen mit Éluard, 1930), Misère de la poésie (1932), Le Revolver à cheveux blancs (1932), Les Vases communicants (1932), Point du jour (1934), L'Air de l'eau (1934), Position politique du surréalisme (1935) – Werke, die um Liebe und Traum, Poesie und Revolte, den Zufall und das Wunderbare kreisen und in denen »die systematische Erhellung verborgener Orte« vorangetrieben wird, um die Surrealität, d.h. die Ganzheit des Wirklichen sichtbar zu machen, jenseits einer vordergründigen, weil auf Nützlichkeits- und Profitdenken reduzierten Vernunft, welche zerstörerische Unvernunft hervorbringt, und die schließlich in dem bewunderungswürdigen Buch L'Amour fou (1937) gipfelten.

Sprachrohr der neuen sozialrevolutionären Orientierung der Surrealisten war die von Breton geleitete Zeitschrift Le Surréalisme au Service de la révolution (6 Nummern, 1930–33). Die immer größer werdenden Differenzen zwischen den Kommunisten und Bretons Gruppe, der sich Ende der 20er, Anfang der 30 Jahre eine Reihe neuer Mitstreiter (René Magritte, Salvador Dalí, Luis Buñuel, Tristan Tzara und viele andere) anschlossen, führte schließlich 1935 zum endgültigen Bruch, seitens der Surrealisten dokumentiert durch Breton Pamphlet Du temps que les surréalistes avaient raison. Damit gehörten die Surrealisten wiederum zu den ersten Künstlern und Intellektuellen, die sich, an ihrer Vorstellung von Freiheit festhaltend, angesichts der totalitären Entwicklung des Kommunismus von diesem distanzierten. In der Folgezeit zählte Breton zu den ersten und zugleich luzidesten und schärfsten Kritikern des Stalinismus, dessen menschenverachtendes Handeln – von den Moskauer Prozessen über die Zerschlagung der spanischen Revolution und den Hitler-Stalin-Pakt bis hin zur Pseudokunst des »sozialistischen Realismus« und zur Knechtung Osteuropas – er bis an sein Lebensende unaufhörlich anprangerte.

In den schwierigen Jahren des sich ausbreitenden Faschismus, in denen die Pariser Surrealistengruppe über kein eigenes publizistisches Organ verfügte – es gelang ihr indes, die Luxusrevue Minotaure (13 Nummern, 1933-39) weitgehend zu einer surrealistischen Zeitschrift umzufunktionieren –, näherte sich Breton dem politischen Denken Leo Trotzkis, den er 1938 in seinem mexikanischen Exil besuchte, wo beide gemeinsam das Manifest Pour un art révolutionnaire independant verfassten: ein letzter und erfolgloser Versuch, die nicht-stalinistischen Linksintellektuellen angesichts der die Welt bedrohenden Totalitarismen zu einer Aktionsgemeinschaft zusammenzuschließen. Unterdessen war der Surrealismus seit einigen Jahren zu einer internationalen Bewegung geworden: Breton reiste ab 1934 zu den surrealistischen Gruppen in Belgien, auf den Kanarischen Inseln, in Prag und in London, zu denen im Laufe der Jahre weitere in Skandinavien, in Südamerika und sogar in Japan hinzukamen. 1938 organisierte er in Paris eine große internationale Surrealismus-Ausstellung, die von der weiten Verbreitung der Bewegung Zeugnis ablegte und ein letztes Mal vor dem neuen Krieg die schöpferische Potenz und den umstürzlerischen Willen der Bewegung dokumentierte.

Bei Ausbruch des neuen Krieges, der die Surrealisten in alle Winde verstreute, wurde Breton erneut mobilisiert, kehrte aber bald darauf, nach dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs, ins Zivilleben zurück. Im Sommer 1940 ging er nach Marseille, wo er eine Reihe anderer Surrealisten wiederfand, auch sie auf der Flucht vor dem Faschismus und gewillt, Europa zu verlassen. Überwacht von der Polizei des Vichy-Regimes, das die Publikation seiner Anthologie de l'humour noir (1940) und des langen Gedichts Fata Morgana (1940) verbot, emigrierte Breton im Mai 1941 über die Antillen nach New York, wo er die fünf folgenden Jahre im Exil verbrachte. Auch hier traf er wieder auf mehrere frühere Weggefährten (Marcel Duchamp, Max Ernst, Leonora Carrington, Yves Tanguy, André Masson, Roberto Matta und andere), so dass wieder eine Art surrealistische Gruppenaktivität möglich wurde, die u.a. in der Herausgabe der Zeitschrift VVV (4 Nummern, 1942–44) und in einer von Breton und Duchamp organisierten Ausstellung, »First Papers of Surrealism« (1942), ihren Ausdruck fand.

In den Jahren des Exils kam es angesichts des in Europa entfesselten Infernos zu einer Akzentverschiebung in Bretons Denken. Nachdrücklicher denn je forderte er eine entschiedene Abkehr von den herrschenden Denkformen und Wertvorstellungen der christlich-abendländischen Kultur im allgemeinen und der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im besonderen, die, so Breton, einmal mehr ihre Destruktivität und Lebensfeindlichkeit an den Tag legte. Im Blick auf die Entwicklung der Sowjetunion äußerte er aber auch Zweifel an der Gültigkeit der marxistischen Lehren und lenkte die Aufmerksamkeit verstärkt auf die ihm ohnehin seit langem vertraute geistige Tradition des Okkultismus, die er partiell als subversiven Untergrund der westlichen Geistestradition verstand, rühmte die Radikalität der vormarxistischen »utopischen« Sozialisten und erhob die Forderung nach neuen, tragfähigen gesellschaftlichen Mythen jenseits des vom ihm stets entschlossen bekämpften Christentums. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch sein Besuch in den Indianerreservaten im Südwesten der USA (1945), der unterstreicht, wie leidenschaftlich sich Breton für das Denken und die Kunst der »Primitiven«, auch sie als Alternative zur westlichen Geistestradition verstanden, begeisterte. Namentlich die Hinwendung zu den Geheimwissenschaften wurde Breton jedoch von vielen als ideologischer Rückschritt ausgelegt, ungeachtet der Tatsache, dass er auch in jenen Jahren nicht von seinen revolutionären Positionen abwich. Die wichtigsten Werke der Exiljahre sind Prolégomènes à un troisième manifeste du surréalisme ou non (1942), die langen Gedichte Pleine marge und Les États généraux (beide 1943), Arcane 17 (1944) und Ode à Charles Fourier (1945).

Die immensen Hoffnungen, die Breton nach der Katastrophe des erneuten Weltkriegs in einen grundlegenden geistig-moralischen, sozialen und politischen Neubeginn setzte, erfüllten sich nicht: Im März 1946 nach einem Zwischenaufenthalt in Haiti nach Paris zurückgekehrt, fand er das politische und geistige Klima in Europa nicht wesentlich verändert. Der kalte Krieg trat an die Stelle des heißen, die nukleare Katastrophe bedrohte die gesamte Menschheit, die Knechtung der Kolonialvölker dauerte mit unverminderter Brutalität an, die diskreditierten politischen Kräfte von gestern griffen erneut nach der Macht, und in Paris beherrschte der Stalinismus auf Jahre hinaus das kulturelle Leben. Dennoch – oder eben deshalb – nahm Breton sogleich wieder eine organisierte surrealistische Gruppentätigkeit auf, die sich u.a. in einer wichtigen Ausstellung, »Le Surrealisme en 1947« (1947), und in verschiedenen surrealistischen Periodika manifestierte: Néon (5 Nummern, 1948–49), Médium (8 bzw. 4 Nummern, 1952–55), Le Surréalisme, même (5 Nummern, 1956–59), Bief (12 Nummern, 1958–60) und La Brèche (8 Nummern, 1961–65). »Mehr denn je«, erklärte er im Juli 1948, »glaube ich an die Notwendigkeit der Umgestaltung der Welt im Sinne des Rationalen (genauer: des Überrationalen) und des Gerechten.« Anfang der 50er Jahre publizierten er und seine Freunde häufig in dem anarchistischen Blatt Le Libertaire, 1952 erschienen seine Entretiens, eine Bilanz des Surrealismus in Rundfunkinterviews, 1953 die Aufsatz- und Artikelsammlung La Clé des champs. 1952–54 führte Breton in Paris die Galerie «À l'étoile scellée», um seine materielle Situation zu verbessern, die während des größten Teils seines Lebens die eines Besitzlosen war. Gedichte schrieb er nach dem Krieg nur noch selten: Constellations (1959), Prosagedichte zu einer gleichnamigen Serie von zweiundzwanzig Gouachen von Joan Miró, sind sein letztes lyrisches Werk.

Die Gruppe, die er anführte und der sich in den Nachkriegsjahren immer wieder neue, von Bretons Denken angezogene junge Intellektuelle, Dichter und Künstler anschlossen, hatte bis Ende der 50er Jahre, nicht zuletzt aufgrund der Feindschaft der Stalinisten, erhebliche Schwierigkeiten, sich einem breiteren Publikum vernehmbar zu machen, und dies umso mehr, als der Surrealismus von vielen als ein bereits der Vergangenheit angehörendes Phänomen betrachtet wurde. Das änderte sich 1960 mit Bretons und seiner Freunde Initiative gegen Frankreichs kolonialistischen Algerienkrieg (»Die Sache des algerischen Volkes, das maßgeblich zur Zerschlagung des Kolonialsystems beiträgt, ist die Sache aller freien Menschen.«). Mit Aktionen wie dieser und mit den von Breton initiierten und organisierten großen Surrealismus-Ausstellungen «Éros» (Paris, 1959–60) und «L'Écart absolu» (Paris, 1965–66) unterstrichen die Surrealisten nachdrücklich ihre Präsenz als »absolute Abweichler« von den Normen der etablierten Gesellschaft. Die Genugtuung, zu erleben, wie diese Haltung und mit ihr ein guter Teil Bretonschen Denkens in der Studentenrevolte um den Mai 1968 (»die größte öffentliche Explosion des Surrealismus«, wie Breton-Biograph Mark Polizzotti schreibt) von der Jugend übernommen und weitergetragen wurde, blieb Breton versagt: Er starb am 28. September 1966 an einer schweren Erkrankung der Atemwege. Die von ihm jahrzehntelang geführte und zusammengehaltene Pariser Surrealistengruppe löste sich, ihrer charismatischen Integrationsfigur beraubt und von inneren Streitigkeiten zerrissen, im Februar 1969 auf. Das bedeutet indessen nicht, dass der Surrealismus seither nicht mehr existiert: In verschiedenen Ländern agieren selbst heute noch, über achtzig Jahre nach der Gründung der Pariser Ursprungsgruppe, kleinere Kollektive, die sich ausdrücklich auf ihn berufen.

An der Bedeutung André Bretons innerhalb der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus – kann es ernsthaft keinen Zweifel geben, wie sehr auch der Verfasser der surrealistischen Manifeste während seines Lebens und bis in die Gegenwart hinein von den Anhängern der bestehenden geistigen und materiellen Ordnung bekämpft wurde. »Ich stelle ihn«, schrieb beispielsweise Eugène Ionesco 1966, »auf eine Stufe mit Einstein, Freud, Jung oder Kafka. Mit anderen Worten, ich betrachte ihn als einen der vier oder fünf großen Reformer des modernen Denkens.« Einen ähnlich hohen Rang haben viele andere Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler Breton vor und nach seinem Tod zuerkannt. »Er war unser Goethe«, schrieb Michel Foucault. Für Octavio Paz war »dieser große Dichter« »eines der Gravitationszentren unserer Zeit«, Jean Paulhan bezeichnete ihn schlicht als »Held[en] der westlichen Welt«, und Salvador Dalí, einige Jahre lang eine kreative Gestalt innerhalb der surrealistischen Bewegung, stellte fest: »Breton hat vielen Künstlern den Weg gewiesen. In Frankreich und überall in Europa war er die Fackel, die ihre Schritte leitete.« Um diese überragende Bedeutung Bretons wissen jedoch nicht alle, denn selbst über vierzig Jahre nach seinem Ableben ist der Autor von L'Amour fou immer noch das, was er zeit seines Lebens war: ein »grand indésirable«, ein großer Unerwünschter, wie Henri Behar ihn im Untertitel seiner großen, 1990 erschienenen Biographie nennt – unerwünscht, weil er offen, kompromisslos und unbestechlich gegen den Zustand einer Welt aufbegehrte, deren Ordnungen er als nicht hinnehmbar empfand und der er unbeirrbar seine Vision einer anderen, in »menschenfarbener Freiheit« sich entwickelnden Welt entgegensetzte.


Der Anti-Vater