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EGON GÜNTHER

Ein Traumfragment


Mittagspassage

Mittagspassage

... Hier entfaltet sich die Traumschau unwirklicher Szenen wie sie ein im ganzen vergebliches Leben illustrieren mögen, festgehalten in den unendlich verlangsamt ablaufenden Sekunden vor der unabwendbaren Offenlegung einer schrecklichen Wahrheit, auf die bereits alle Anzeichen hingewiesen haben, die freilich erst im nachhinein, in der gesammelten Rückschau, in der ihnen eigenen wahren Bedeutsamkeit und durch die in sie eingeschriebene Richtung erkannt werden können - vordem pflegte man sie, unter Entwicklung eines unbestimmt schlechten Gefühls, in einer leisen, sogleich beiseite geschobenen Vorahnung, zu übergehen - , da der überstürzte Tagesablauf an jeder Ecke unendliche Möglichkeiten der Ablenkung bereithält. Doch in den klaren und konzentrierten fotographischen Aufnahmen, die fortwährend im Schlaf aufscheinen und nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen, stört keine vorübereilende Flüchtigkeit, an die der wache Geist sich bereitwillig klammern könnte, die unmittelbare Empfindung einer tiefen Beunruhigung - alles ist auf die nahende Katastrophe hin ausgerichtet.
Sie füllt bereits die dunklen Winkel der Räume, hängt über den Möbelstücken, deutet sich an in dem selbsttätigen Zurückweichen der Flügeltür, dem Flackern der Kerzen, die ein geisterhaftes Licht auf das Tafelgeschirr werfen, dem Ausweiten eines nassen Mauerfleckens, der formlos unaufhörlich anwächst. Sie begleitet die schuldbewußten Bewegungen gespenstischer Kuttenträger im Hof eines längst aufgelassenen Klosters, das unvermutet an derselben Stelle erscheint, wo gerade noch hohe Wellen einer sturmgekämmten See über achtlos aufgetürmte Steine hinweg an die Brüstung einer Seepromenade schlugen und die Gischt über die Breite der dahinter gelegenen Straße auf niedergeduckte Häuser regnen ließen, deren Fensterfronten und Eingänge gleichwohl vernagelt sind, sodaß dem zurückweichenden und eine Zuflucht suchenden Reisenden die gothische Kirche als der einzige, obschon unsichere Ort erscheint, wohin er sich noch wenden kann.
Doch kaum richtet dieser seinen Schritt auf die leichte Anhöhe hin - aus den Falten seiner Erinnerung windet sich eine Bezeichnung für jene Erhebung: sie wird im Volksmund "der Sonnenhügel" genannt -, wird ihm die Bedeutung des Zusammentreffens so unterschiedener Situationen, Kirche und Meer, bewußt und auch die diese Konstellation bergende Drohung. Die Szenerie wechselt, wenn nicht die Bedeutung, so doch die Örtlichkeit. Sie löst sich auf beim angstvoll erwarteten Anblick der Kuttenträger im Klosterhof, den nun nur mehr die Ruinen des Klostergebäudes umstehen, in einem unartikulierten Schrei, der seltsam abgerundet wie aus einem durch Laub gedämpften Lager, mehrfach im Tunnel der Mundhöhle widerhallt.
Der Schläfer erwacht, um im selben Augenblick zu vergessen -, so nah der Wahrheit und dem Schrecken und doch so fern.

© Egon Günther



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