Sich über Surrealismus zu äußern, ist ein überaus
schwieriges Unterfangen. Schon manches wurde darüber gesagt ohne
den allerdings verschleierten, vielschichtigen Kern wirklich zu lüften.
Es wäre auch eine Anmaßung, sagen zu wollen, was er wirklich
ist. Schon eher, was er nicht ist...
Der Surrealismus ist kein Kunst-Stil; womöglich noch durch akademische
Schulung erreichbar. Viel eher ist er eine geheimnisvolle Kraft des archaisch-mystischen
Unter- und Vorbewußten. Daher die erstaunlichen Reserven der Rückerinnerung
an vergangene Ewigkeiten, mit dem Blick auf die imaginäre Zukunft.
Der Surrealismus ist eher eine katalysierende Kraft die der Kunst immer
wieder neue Türen öffnet; zu Räumen, die uns Strahlendes
- Schreckliches - Phantastisches - Erlösendes und Himmlisches erblicken
läßt, wie wir es uns mit unseren an das Alltagssehen gewöhnten
Augen nicht vorzustellen vermögen. Das sind Gefühle, die sich
nicht nur in der Kunst zeigen, sondern sich ebenso in anderen Lebensbereichen
prophetisch äußern können. Nicht selten haben es Autodidakten
leichter, in der Kunst etwas von dem Besonderen dieser Sender einzufangen.
Leichter als Menschen, die mit dem Ballast vielen Wissens und Könnens
behaftet sind. "Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf". Sie haben
es. Sie haben es mit elementarer Selbstverständlichkeit wie die Kinder.
Sie müssen es sich nicht mühselig erwerben.
Der Surrealismus ist eher eine zu gewissen Zeiten sich verändernde
Weltanschauung spiritueller Art. Ich glaube, wir erleben z.Zt. eine solche
in Europa. Greift da einer unvermittelt unter eine weltanschauliche Versteinerung?
Schießt da eine Schlange hervor, die uns zunächst erschreckt,
sich aber schließlich als seltene Klugheit entpuppt; als die alte
Schlange der Weisheit und der Mystik, die sich symbolhaft in den Schwanz
beißt und die uns in der Schrecksekunde Unglaubliches ahnen läßt.
Immer wieder, oft nach langen Zwischenpausen, hat das surreale Element
in der Kunstgeschichte befreiend und erneuernd gewirkt; schwankend zwischen
deutbarer Imagination und nonfigurativer Darstellung. Man muß sehen
lernen, um zu wissen, daß sich solche erschreckende Wahrheiten zuweilen
bewußt tarnen und verstecken in allen Kunstrichtungen. Es will von
inneren, wissenden Augen entdeckt sein. Der Surrealismus dürfte ein
Element sein, daß das Ursprüngliche, aber Verschüttete,
Verkrustete wieder belebt, das zumeist dann wirksam wird, wenn es kaum
noch erwartet wird.
Wer Illustrationen, Darstellungen, profane oberflächliche Geschichten
erwartet, dem versagen sich solche Bilder, weil sie Gebilde und Gefüge,
nicht Darstellungen, nicht Abbilder sein wollen. Der Surrealismus ist
keine Wissenschaft und läßt sich auch nicht durch sie ergründen.
Alle Menschen aber haben durch ihre ähnlichen, sinnlichen Gefühle
Antennen, die das Rätselhafte, geheimnisvolle Schimmern in der Kunst
übertragbar machen, wobei der Surrealismus als Katalysator hilfreich
sein kann.
Die Vielschichtigkeit des Surrealismus, die ihn zum Glück nicht
zum Kunststilwerden läßt und die äußerlich durch
kluge Lenkung Bretons zusammengehalten wurde, mußte sich naturgemäß
noch dessen Tode auflösen. Die bleibenden, tieferen Zusammenhänge
werden nur von wenigen gesehen und seine Verstecke meist nicht erkannt;
dazu kommt noch, daß sich von drittklassigen "Künstlern" in
breiter Bahn ein Pseudo-Surrealismus billigster Art breit gemacht hat
unter äußerer Formübernahme. So kommt zum Überdruss
süßer und saurer Kitsch, sowie Gruselangst dazu. Nur wie er
sich räuspert und wie er spuckt, das haben sie dem Surrealismus abgeguckt.
Ein Grund mehr, für Echte, Empfindende - gleich ob Künstler
oder Betrachter, sich von solch dünner Sauce abzusetzen.
Großes Geschrei in der Kunstwelt:
"Wo ist der Surrealismus?" - "Der Surrealismus ist tot".
"Der Surrealismus hat versagt" - "Wir wußten es vorher",
schreien die 9 x Klugen, die immer schon nur mit dem Gehirn
anstatt mit den Augen sehen wollten oder
konnten.
© Woldemar Winkler, mit Genehmigung der Woldemar-Winkler-Stiftung Gütersloh
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