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Inversage von Milan Nápravník




Milan Nápravník

Alpdrücken


Aus dem Tschechischen von K. B. Schäuffelen & T. Kafková


Ich kann es ihnen nicht recht machen, als hätte ich irgendwo einen Grund. Ich wiederhole es hundertmal, tausendrnal, als hätte ich irgendwo einen Grund, und sie können es nicht begreifen ... Manchmal passiert es, ich nehme einen Wecker und drehe die Zeiger rundherum. Nichts, Ich lasse das und trinke ein Glas Wasser. Nichts. Immer würden sie auf mich zeigen, wenn ich mich nicht gut verstecken würde, wenn ich mich vor ihrem Zeigen nicht hinter irgendeinem Möbelstück verstecken würde, zum Beispiel hinter einem Sessel. Schöne Geschichte. Ich gehe und verstreue Worte, hier und da eins oder zwei, gehe über die Straße und schlüpfe durch die Pforte. Nichts. Ich gehe zurück. Oder gehe nicht. Gehe nicht zurück und stehe hinter der Pforte und schaue sie an, aber es ist alles umsonst, als wäre ihnen etwas zum einen Ohr hineingekrochen und hätte vergessen, zum anderen wieder herauszukriechen. Hund. Manchmal wache ich auf und starre zur Tür. Vielleicht amüsiert es sie, mich ganze Nächte anzuschauen, wie ich schlafe, wie ich schlafe und schnarche, und ständig müssen sie auf mich zeigen, sie sagen kein Wort, lächeln nicht einmal dabei, Zeigefinger wie Dornen. Ich habe schreckliche Lust, einen Schlauch zu nehmen und sie mit Wasser zu bespritzen oder sie mit Kalk zu bestreuen, sie mit ungelöschtern Kalk zu bestreuen und mit Erde zuzuschütten ... Wenn ich auf dem Klo sitze, kratzen Fingernägel an meiner Tür. Sie kratzen, klopfen ans Fensterchen, tuscheln etwas miteinander, lachen, girren, bellen, quaken, rufen mich bei meinem Namen und fragen nach Einzelheiten. Sowie ich die Tür aufmache, verstummen sie. Verstummen, treten ab, aber fangen an, auf mich zu zeigen, sich zu stoßen oder sich die Hände zu reiben ... Während sie solche Dummheiten machen, vermehrt sich alles hinter ihrem Rücken. Ich sehe zu, wie es sich vermehrt, und möchte mich umbringen, aber sie würden auch auf meine Leiche zeigen. Ich stehe da und sehe zu, wie es sich vermehrt, ich möchte nachdenken, ich denke nach, dann sehe ich, daß sie auf mich zeigen, wie ich nachdenke, also denke ich nicht nach. Schließe die Augen. Schließe die Augen, es ist umsonst, ich höre, wie sie auf mich zeigen und wie es sich vermehrt. Ich verstopfe mir die Ohren. Der Lärm schwillt an. Wenn ich mir die Trommelfelle zerstechen würde, schwölle der Lärm an, bis alles zittert ... Manchmal setze ich mich ans Klavier und haue in alle stummen Tasten, spiele einige Stunden auf allen stummen Tasten, damit keine Musik zu hören ist. Manchmal setze ich mich ans Klavier und haue in alle tönenden Tasten, spiele einige Stunden auf allen tönenden Tasten, damit kein Lärm zu hören ist. Manchmal setze ich mich ans Klavier, sitze mit hängenden Armen und rühre mich nicht. Sitze, schaue auf eine Stelle, und diese Stelle bleibt immer dieselbe. Sie zeigen auf mich, als säße in mir etwas Unreines, aber ich schaue auf eine Stelle, manchmal schlafe ich ein, manchmal wache ich auf, die Stelle bleibt immer dieselbe, eine Stelle wie ein Schwein! Ich rechne: zweimal zwei sind vier. Ich rechne, eine Weile glaube ich es, eine Weile zweifle ich daran. Ich rechne wieder. Rechne: zweimal zwei sind drei. Ich bemühe mich, sie zu ermüden, aber sie sind, scheints, nicht zu ermüden. Wenn ich nicht wüßte, wenn ich nicht erkannt hätte, daß sie Angst haben, könnte ich sie vielleicht erschrecken. Ich weiß aber, daß sie nicht nur auf mich zeigen, sondern auch Angst haben, ich weiß, sie haben Angst wie Kinder ... Manchmal tun sie mir leid. Manchmal tun sie mir leid, manchmal bin ich wütend auf sie. Ich stelle mich wie eine Gipsfigur auf ein Podest und stehe so absichtlich lange Zeit, dann stürze ich plötzlich herab, aber auch wenn ich in Stücke ginge, würden sie nicht aufhören, auf mich zu zeigen. Ich sage mir, mach was du kannst, immer sage ich mir, mach was du kannst, aber ich mache nichts. ich müßte sie umbringen. Vielleicht müßte ich sie umbringen und dann im Blute waten wie ein Metzger, vielleicht müßte ich in sie hineindreschen wie in ein Kornfeld, aber sie würden nicht aufhören, sich zu zeigen, wie ich sie umbringe ... Ich habe weiße Hände und habe weißes Haar. Jahre schon habe ich weiße Hände und weißes Haar, und Blut, ein Blut wie Milch. Seit sie auf mich zeigen, seit der Zeit habe ich weiße Hände, weißes Haar und weißglühendes Blut. Ich schneide mich in den Finger, und das Blut tropft auf den wie Blut weißen Boden. Ich kann nicht wahnsinnig werden. Ich kann weder wahnsinnig werden noch ihre auf mich gerichteten Zeigefinger abwenden. Es ist mir schwer. Sie stehn vor meinen Fenstern und zeigen sich mein Haus, zeigen auf mich, als wäre ich an allem schuld. Ich bin nicht schuldig, ich weiß, daß es sich vermehrt, ich weiß es viel zu gut, aber ich kann es ihnen nicht sagen, ich kann es ihnen nicht schreiben, ich kann es ihnen nicht zeigen. Ich bin nicht daran schuld, daß es sich vermehrt. Wenn sie mir den Rücken zukehrten, würden sie es selber sehen, würden sie sehen, wie es sich verraehrt, und könnten darauf herumtreten. Ich bin nicht daran schuld, daß sie sich nicht umdrehen können. Es ist wie auf einem Kinderbild: inmitten von allem ist ein Käfig und in dem Käfig ein Vogel. Du machst den Käfig auf, der Vogel sitzt und rührt sich nicht. Du machst den Käfig wieder zu, der Vogel sitzt und rührt sich nach wie vor nicht. Du kannst den Käfig hundertmal hintereinander auf- und zumachen, der Vogel rührt sich nicht. Du kannst gehen, kannst tun, als nährnst du von ihm keine Notiz, der Vogel rührt sich nicht. Du kannst bei ihm stehen und ihm ein Stück warmes Fleisch anbieten, der Vogel rührt sich nicht. Du kannst ihm ein Spiegelchen geben, einen Revolver, einen Kinderkopf, du kannst ihm zurufen, pfeifen, singen, der Vogel rührt sich nicht. Du kannst ihn mit einem Stöckchen stoßen, kannst ihn mit einer Nadel stechen, ihm aus der Bibel vorlesen, ihm was einreden, der Vogel rührt sich nicht. Je länger, desto besser: es ist ein ausgestopfter Vogel ... Am Anfang ... am Anfang erschreckte es mich. Ich ging im Zimmer auf und ab, zündete mir eine Zigarette an, blies das Zündholz aus, sog den Rauch ein, umkreiste den Käfig im Zimmer und bemühte mich, mir etwas auszudenken. Ich konnte nichts ausdenken. Ich konnte vielleicht deshalb nichts ausdenken, weil alles schon ausgedacht war. Was man ausgedacht hat, ist ausgedacht, was man nicht ausgedacht hat, ist nicht ausgedacht. Vielleicht gab es nichts mehr auszudenken. Vielleicht gab es nichts mehr auszudenken, aber es ist auch durchaus möglich, daß sich nichts mehr ausdenken ließ. Vielleicht konnte ich nichts mehr ausdenken, weil sie immer auf mich zeigten. Ein Loch. Hundert Jahre kannst du Sand aus einer Hand in die andere schütten, hundert Jahre kannst du Sand umschütten, Körnchen für Körnchen, und dennoch wirst du es nicht zuschütten. Hundert Jahre kannst du Sand aus den Augen kratzen, hundert Jahre kannst du Sand auskratzen, Körnchen für Körnchen, und dennoch wirst du es nicht auskratzen. Alles wiederholt sich, und je länger, desto mehr vermehrt es sich. Alles wiederholt sich, und je länger, desto größer das Stück, je länger, desto größer der Schlag, bis eines Tages, eines Tages verschwindet der Boden, und der Fall wird ohne Ende sein ... Ich bin nicht schuld. Ich habe keine Wahl. Ich kann nicht wählen. Manchmal kann ich so tun, als könnte ich wählen, aber ich kann nicht. Wenn sie immer auf mich zeigen, wenn sie immer mit den Augen an mir hängen, weiß ich, was ihnen passieren wird, aber sie wissen es nicht. Und inzwischen vermehrt es sich hinter ihrem Rücken, kriecht die Wände hinauf, durch die Ritzen der Bretter, auf Bäume hinauf, ihnen die Beine hoch, kriecht über ihre Knöchel, ihre Waden, über die Oberschenkel, über den Bauch und vom Bauch zur Nase. Ich kann nichts machen. Ich sitze am Klavier mit hängenden Armen und schaue zu.



Aus: Kassiber, 1957
© Milan Nápravník




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