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Inversage von Milan Napravnik







Milan Nápravník

Ohne Hohn


aus dem Tschechischen vom Autor und Heribert Becker


Wie ein streunendes Tier
Ohne Zusammenhang mit der Stadt
in der es sich von Straßenecke zu Straßenecke bewegt
Ein trockenes Ahornblatt
in Begleitung des Windes der in diesem Lande nie schlafen geht
Im vierzehnten Arrondissement mit seinen breiten Platanen
Es genügt ein paar Jahrzehnte vor der Kirchentür stehen zu bleiben
Und die stumpfsinnigen Ankömmlinge zu betrachten
Ihre hart zusammengerollten Gesichter
Ihre vor Raffgier rauh gewordenen Hände
Die Knoten ihrer Enttäuschungen
Die abgetragenen Hüte die über die Woche sorgsam in Schachteln aufbewahrt werden
Alles riecht nach Bettelei und Pflichten
Die Schritte sind gründlich und hart
Es nieselt

In einem eher entlegenen Winkel hinter den Hinterhöfen fließt das Blut aus den Wunden von gut Erschossenen
Mit dem Urin von abgerupften Profiten zusammen
Man hört das Rascheln von Bilanzen
Prozente klirren über den zugeschaufelten Gräbern
Menschen in Spinnwebenschlingen (von der Perversion der Geschichte gewebt)
Die sich ausbreiten von Pol zu Pol
Wundern sich übereinander und alle über alle
Wie ist es möglich Atompartikel zu sehen
Oder hinauf auf den Mond zu hopsen
Wie ist es möglich Stämme und Rassen auszurotten
Oder Hunden Elektroden in die Köpfe zu rammen und ihnen die Drüsen abzubinden
Im Namen der Zivilisation und irgendeiner Freiheit des Menschen
Angeblich im Namen der Zivilisation und der Freiheit des Menschen
Doch wovon man in der feinen Gesellschaft nicht spricht:
Zu wessen Vorteil?
Die Märkte zucken die Achseln
Zecken kriechen vor Scham in die Zickenhaut
Es kommt zur Sonnen- und Geistesfinsternis
Zu wessen Vorteil?
In der Ecke plappert ein Kind

Er zerbricht seine Feder es hat keinen Sinn mehr Gedichte zu schreiben
Ein lyrischer Text ist zuletzt nur Ausfluß des Gefühls der Zufriedenheit und der Hoffnung
Und dies auch dann wenn er blutet
Denn er ist an Händen und Füßen von dem Glauben gefesselt an die Macht der dichterischen Visionen
Schöne Bilder verdecken häßliche Flecken auf den Wänden
Obwohl sie sich zu Recht gegen das apodiktische Sabbern der Engagierten wehren
Und gegen die biedere Tadelei der Täuflinge
Und der Überzeugten
Gegen die Bewohner von Kisten mit Zubehör
Gegen die unsinnigen Sinnenlosen die sich täglich nach der immer gleichen Mahlzeit den Mund ablecken
Nach immer dem gleichen Glas Bier
Das sie behaglich gegen das Licht betrachten
Um sich am Funken des Sonnenstrahls zu ergötzen der sich in dieser Flüssigkeit bricht
Die aus den Poren herausgepreßt wurde
Mit der Stockpresse die so alt ist wie die Basare der neolithischen Gesellschaft

Gestern oder vorgestern sind neue Rattenfänger mit frisch gewetzten Pfeifen eingetroffen
Wieder mit den Freiheitsliedern
Wieder mit den alten Fallen für neue Idioten
Selber brennend haben sie Feuer gelegt in jedem Haus und in jeder Hütte in jeder Ritze der Welt
Wieder mißbrauchen sie die uralten Sehnsüchte zugunsten der neuen Leibeigenschaft
Zum wievielten Male haben sie neue Schmuckbänder auf die Weiden der archaischen Tempel gehängt
Zum wievielten Male haben sie mit Licht geblendet um die Geblendeten in den Säcken der Finsternis zu fangen

Das Frühjahr kam oder wird bald kommen
An den Büchen der Père-Lachaise hängen Eiszapfen herab
Von denen Tropfen für Tropfen das braune Blut herunterrinnt
Katzen winden sich unter den Hoftoren hindurch und verschwinden in den Schuppen
Die Stadt riecht nach Schimmel
Das Herz pocht vor Begeisterung und Angst
Und die Abstraktionskrankheit
Übermannt einmal mehr die Abwehrkräfte der Erfahrung und vielleicht auch die des Verstandes
Sie vermauert alle Fenster und Notausgänge
Und füllt die Lebensräume gänzlich mit dem unterkühlten Gas der Arroganz
Ruhe!
Und während die Kartoffelmünzen unters Bett rollen
Während sich die Kupferarmbänder an den Handgelenken der Lunatiker schwarz färben
Während die Sterne sich über den Ameisenhaufen des Firmaments bewegen
Ist es strengstens verboten auf den Ambiten umherzuirren



© Milan Nápravník, Heribert Becker (dt. Übersetzung)




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